Die Obstdiebin
Leseprobe I Peter Handkes jüngster Roman
Auf einmal auch kam ich frei von der Zeitnot, in der ich mich verfangen hatte, eine grundlose Zeitnot, die mich immer wieder befiel, nicht allein in den Aufbruchsstunden, da in der Regel besonders atemabschnürend, und in der Stunde vor dem Aufbrechen geradezu mörderisch. Keine Stunde darüber hinaus. Buch des Lebens? Blindband. Aus der Traum. Aus das Spiel.
Unverhofft jetzt aber: Zeitnot verflogen, und gegenstandslos geworden. Alle Zeit auf Erden hatte ich plötzlich. Alt wie ich war: Mehr Zeit denn je. Und das Buch des Lebens: Offen und dabei dingfest, die Seiten, besonders die unbeschriebenen, aufleuchtend im Wind der Welt, der Erde hier, der Hiesigkeit. Ja, ich würde meine Obstdiebin endlich, nicht heute, nicht morgen, doch bald, sehr bald zu Gesicht bekommen, als Person, als ganze, und nicht bloß in den Teilen, den phantomatischen, wie sie mir in all den Jahren zuvor, meist in der Menge, und da immer nur von weitem, unter die altgewordenen Augen gekommen sind und mich noch einmal auf die Sprünge gebracht haben. Ein letztes Mal?
Ja, hast du denn vergessen, daß es sich nicht gehört, von einem „letzten Mal“zu reden, ebensowenig wie von einem „letzten Glas Wein“? Oder wenn, dann so wie jenes Kind, das, nachdem ihm sein Spiel „ein letztes Mal!“(sagen wir, auf einer Schaukel oder einer Wippe) zugestanden worden war, ruft: „Noch ein letztes Mal!“, und danach: „Und noch ein letztes Mal!“Ruft? Jauchzt!
Peter Handke: Die Obstdiebin,