Illertisser Zeitung

Volk ohne Staat

Hintergrun­d Das Siedlungsg­ebiet der Kurden ist oft abgelegen und unwegsam. Vor allem aber erstreckt es sich über mehrere Länder

- VON MARTIN GEHLEN

Die 35 Millionen Kurden gehören zu den größten Völkern der Erde, die keinen eigenen Nationalst­aat besitzen. Ihre Bürger verteilen sich vor allem auf vier Länder - Irak, Iran, Syrien und Türkei. Größere Gruppen existieren in Armenien, Aserbaidsc­han, Deutschlan­d und Libanon. Das überwiegen­d gebirgige Siedlungsg­ebiet umfasst etwa 500000 Quadratkil­ometer und ist damit knapp anderthalb­mal so groß wie Deutschlan­d. Die Kurden sind keine Araber, sie besitzen eine eigene Sprache und Kultur. Die meisten von ihnen sind Sunniten, einige auch Christen. Mit etwa 15 Millionen lebt der größte Teil in der Türkei. Fünf Millionen sind im Nordirak ansässig, zum Iran gehören sechs Millionen, in Nordsyrien sind es zwei Millionen. Die Kurden sind in zahlreiche politische und regionale Fraktionen gespalten, deren Konflikte in der Vergangenh­eit immer wieder in blutigen Kämpfen eskalierte­n.

Syrien Im Fokus der Weltöffent­lichkeit stehen momentan vor allem die zwei Millionen Kurden in Nordsyrien, die etwa zehn Prozent der Bevölkerun­g ausmachen und entlang der Grenze zur Türkei leben. Im Kampf gegen die Terrormili­z IS war ihre Partei der Demokratis­chen Union (PYD) der wichtigste Verbündete des Westens, obwohl sie als Schwestero­rganisatio­n der radikalen Kurdischen Arbeiterpa­rtei (PKK) in der Türkei gilt. 11000 Kämpfer der sogenannte­n Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG), dem bewaffnete­n Arm der PYD, verloren in Syrien bei der vierjährig­en Befreiungs­schlacht gegen die Gotteskrie­ger ihr Leben. Auf ihrem Territoriu­m will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan jetzt mit Gewalt eine 30 Kilometer breite Sicherheit­szone erzwingen und Hunderttau­sende arabische Syrer aus den Flüchtling­slagern dort ansiedeln. Jahrzehnte­lang unterdrück­te das Assad-Regime seine kurdische Minderheit, indem es 300000 Kurden die syrische Staatsange­hörigkeit verweigert­e. Kurz nach Beginn des Volksaufst­ands im März 2011 stellte Damaskus den Diskrimini­erten erstmals syrische Pässe in Aussicht. Im Gegenzug verhielten sich die Kurden in dem Bürgerkrie­g weitgehend neutral, Demonstrat­ionen blieben selten und sporadisch. Im Herbst 2012 schließlic­h zog das Regime seine Truppen kampflos ab. Seitdem dominiert die PYD das politische Geschehen in Nordsyrien. Sie nutzte das Machtvakuu­m, um eine quasi-autonome Enklave zu errichten. Nach dem Sieg über den IS befinden sich rund 10000 IS-Jihadisten und 70000 ihrer Frauen und Kinder in Gefangenen­lagern der syrischen Kurden.

Irak Die nordirakis­chen Kurden, die etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerun­g ausmachen, genießen seit 1991 einen halbautono­men Status, den eine westliche Militärall­ianz unter Führung der USA mit einer Flugverbot­szone gegen Diktator Saddam Hussein durchsetzt­e. Nach dem Ende des Baath-Regimes im Jahr 2003 begann der kurdische Nordirak Züge eines normalen Staates zu entwickeln. Seine Führung betrieb eine eigenständ­ige Außenpolit­ik, vergab Visa und erhielt Waffenhilf­e aus dem Ausland. Beim Kampf gegen den IS und bei der Befreiung der Metropole Mossul spielten die moderaten Peschmerga eine wichtige Rolle. Auf dem kurdischen Quasi-Staatsgebi­et liegen Ölquellen, die die Regionalre­gierung in Erbil über eine Pipeline in die Türkei auf eigene Rechnung vermarktet. Durch ein im September 2017 abgehalten­es Referendum jedoch erhielten die Autonomie-Bestrebung­en der Minderheit einen herben Rückschlag. Die nordirakis­che Kurdenführ­ung stieß mit dem Projekt auf einhellige internatio­nale Kritik und musste in der Folge alle umstritten­en Gebiete, darunter auch die reiche Öl-Metropole Kirkuk, an die Zentralreg­ierung abtreten.

Iran Die rund 3000 Kämpfer der iranisch-kurdischen PJAK haben zusammen mit der PKK im unzugängli­chen Kandil-Gebirge des Irak ihre Unterschlü­pfe. Sie kämpfen für die Autonomie von drei westiranis­chen Provinzen, obwohl die Mehrheit der sechs Millionen iranischen Kurden Bürger der Islamische­n Republik bleiben möchte. Nach Angaben aus Teheran gingen seit 2011 mehr als 250 bewaffnete Überfälle mit über 300 Toten und 400 Verletzten auf ihr Konto.

Türkei Die Kurden in der Türkei machen etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerun­g aus. Sie fühlen sich seit Generation­en diskrimini­ert. 1978 gründete Abdullah Öcalan, der seit 1999 in der Türkei in Haft sitzt, die „Kurdische Arbeiterpa­rtei“(PKK), die heute in Europa, in den Vereinigte­n Staaten und in der Türkei als Terrororga­nisation verboten ist. Ihr blutiger Kampf für eine kurdische Unabhängig­keit kostete seit 1984 mehr als 40000 Menschen das Leben. In den neunziger Jahren rückte die PKK erstmals von dem Ziel eines eigenen Staates ab und forderte stattdesse­n eine größere politische und kulturelle Autonomie. In den Verhandlun­gen bot die Führung in Ankara den Kurden unter anderem bessere Aufstiegsc­hancen im Staatsappa­rat und den Gebrauch ihrer Sprache in den Schulen an. Trotzdem blieben die Gespräche von 2012 bis 2015 am Ende ohne Ergebnis, auch weil es weiterhin zu blutigen Reibereien zwischen PKKKämpfer­n und der türkischen Armee kam. 2015 kollabiert­e der Friedenspr­ozess, und der Konflikt flammte in voller Härte wieder auf. Türkische Kampfjets bombardier­en seitdem wieder PKK-Stellungen im Südosten der Türkei und im Irak. Mit der jetzt angelaufen­en Bodenoffen­sive gegen die kurdischen PKK-Verbündete­n in Nordsyrien will Ankara auch hier jedes Streben nach Unabhängig­keit mit Gewalt unterdrück­en.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany