Illertisser Zeitung

Arme Schweine

Hintergrun­d Der Hygieneska­ndal beim Fleischerz­euger Wilke wirft auch ein Licht auf die Arbeitsbed­ingungen in einer Branche, die mächtig unter Druck steht

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Jetzt sind es schon drei Tote: Am Freitag gab Hessens Verbrauche­rschutzmin­isterin Priska Hinz (Grüne) mit Verweis auf das RobertKoch-Institut bekannt, dass eine weitere Person nach dem Verzehr von Waren der nordhessis­chen Firma Wilke Waldecker Fleisch- und Wurstwaren GmbH an Listeriose gestorben ist. Hinzu kommt eine ganze Reihe von Krankheits­fällen, die mit der Wurst in Verbindung gebracht werden. Neu ist zudem, dass die Opfer aus Baden-Württember­g, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt stammen – und nicht, wie erst gemeldet, nur aus Südhessen.

Dort hat die Staatsanwa­ltschaft Kassel nun ein Ermittlung­sverfahren gegen den Geschäftsf­ührer der Firma, Klaus Rohloff, eingeleite­t. Die Begründung: Anfangsver­dacht der fahrlässig­en Tötung, fahrlässig­en Körperverl­etzung, Verstöße gegen das Lebensmitt­el- und Futtergese­tzbuch. Der Betrieb hat inzwischen Konkurs angemeldet, der Konkursver­walter prüft, ob er eine Zukunft hat. Es sind eingeübte Prozesse, die nun ineinander­greifen. Entscheidu­ngen am Schreibtis­ch, die aber über das Schicksal jener Menschen entscheide­n, die bei dem Skandalbet­rieb gearbeitet haben. Es bleibt die Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Noch im Juli hat Wilke eine Kontrolle für ein in der Branche übliches Hygiene-Zertifikat bestanden. Kann also ein Fall Wilke jederzeit wieder passieren?

Schon lange vor dem Skandal war bei Wilke das Geld knapp. Das Jahr 2017 war ein Krisenjahr für die gesamte Branche. Die Rohstoffpr­eise stiegen rasant, aber im Handel waren Preiserhöh­ungen kaum durchzuset­zen. Dazu kommt: Die Margen in der fleischver­arbeitende­n Industrie sind eng. Viele Unternehme­n überlebten die Krise nicht. Die Zahlen im Jahresabsc­hluss von Wilke, der im Bundesanze­iger veröffentl­icht ist, sprechen eine klare Sprache: 2,6 Millionen Euro Verlust sind dort verzeichne­t. Beigetrage­n haben dazu auch große Investitio­nen.

Die deutsche Fleischind­ustrie wächst. In den vergangene­n 20 Jahren ist die Fleischpro­duktion um gut 36 Prozent gestiegen. 8,5 Millionen Tonnen Fleisch haben die Unternehme­n in Deutschlan­d im Jahr 2017 erzeugt. Zehn Jahre zuvor waren es noch eine Million Tonnen weniger. Obwohl in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich auch sehr viel Fleisch gegessen wird, kann so ein Wachstum nur durch Erfolge im Export zustande kommen. Deutschlan­d ist der größte Schweinefl­eischliefe­rant Europas und die Nummer zwei bei Rind- und Kalbfleisc­h.

Doch der Wettbewerb­sdruck ist extrem, die Margen sind schmal und der bürokratis­che Aufwand hoch. Deswegen ging die Ausweitung des Geschäfts einher mit einem Konzentrat­ionsprozes­s. Das mit Abstand größte Unternehme­n in der deutschen Fleischwir­tschaft ist die Tönnies-Gruppe, ein Gigant mit einem Umsatz von rund 6,9 Milliarden Euro im Jahr 2017. Noch eine Zahl zur Einordnung: 16,6 Millionen Schweine hat das Unternehme­n in jenem Jahr geschlacht­et. Doch der Erfolg hat auch eine dunkle Seite.

Unangenehm­e Berichte über die Ausbeutung ungelernte­r Arbeitskrä­fte häuften sich. Bis heute gängige Praxis in der Branche ist das Ausglieder­n der schmutzige­n Arbeit in den Schlachthä­usern an Leiharbeit­er und Subunterne­hmer, die vor allem in Ost- und Südosteuro­pa Arbeiter mit dem Verspreche­n auf einen guten Verdienst ködern. Dieses Modell greift nun von den Schlachtbe­trieben auf die Verarbeitu­ngsbetrieb­e über. Am Fall Wilke zeigt sich, welche Folgen das haben kann.

Andreas Kampmann, zuständige­r Regionalle­iter der Gewerkscha­ft Nahrung Genuss Gaststätte­n (NGG) vor Ort sagt, die Stammbeleg­schaft bei Wilke habe sich in den vergangene­n Jahren halbiert: „Bei der letzten Betriebsra­tswahl 2018 waren es nur noch 148 Stammbesch­äftigte. Es waren mal annähernd 300.“Dafür wurden jeden Morgen immer mehr Leiharbeit­er mit Kleinbusse­n an das Werk gekarrt. In der Firmenhier­archie unter ihnen rangierten die ebenfalls immer zahlreiche­ren Arbeitskrä­fte aus Osteuropa, die nach Recherchen der ortsansäss­igen Waldeckisc­hen Landeszeit­ung hauptsächl­ich über einen nun auf Tauchstati­on gegangenen ungarische­n Unternehme­r nach Deutschlan­d kamen.

Kampmann zufolge waren es früher hauptsächl­ich Ungarn, zuletzt seien es wohl überwiegen­d Rumänen gewesen, die auch ran mussten, wenn die anderen frei hatten: samstags, sonntags, feiertags. Die Landeszeit­ung zitiert einen Arbeiter mit der Aussage, Zwölfstund­en-Schichten seien die Regel gewesen, ein freies Wochenende habe er seit dem Sommer nicht gehabt. Auch Arbeitsver­träge hätten er und viele Kollegen erst hastig erhalten, als das Unternehme­n schon geschlosse­n war. Untergebra­cht waren die Arbeiter, so Kampmann, „unter abenteuerl­ichen Umständen“in der Umgebung des Werks.

Warum dieses System so lange funktionie­rt hat, ist das eine. Das andere ist die Frage, ob dies auch die Hygienemän­gel erklären kann. Neben der Arbeitsbel­astung und der fehlenden Wertschätz­ung ist ein Knackpunkt wohl die Kommunikat­ion. „Wenn man häufig wechselnde Mitarbeite­r hat, mit denen aus Sprachgrün­den kein Gespräch möglich ist, ist es eine Herausford­erung, sie mit allen Arbeits- und Hygieneanf­orderungen vertraut zu machen“, sagt Kampmann. Auch die Reinigung bei Wilke sei von einer externen Firma erledigt worden. Doch die Mängel deuteten darauf hin, dass die Reinigung eben „nicht so stattgefun­den hat, wie sie stattfinde­n muss“, so Kampmann.

Um die Aufarbeitu­ng der Vorfälle bei Wilke muss sich nun die Justiz kümmern. Doch die strukturel­len Probleme der Branche bleiben. Weil Arbeitsbed­ingungen und Verdienst so schlecht sind, finden die Unternehme­n kaum noch Personal. Mehr zahlen können sie aber nicht: Gegen Lidl, Aldi, Edeka und Co. sind höhere Preise nicht durchzuset­zen, so beschreibt Kampmanns Kollege Thomas Bernhard, NGG-Referatsle­iter für die Fleischwir­tschaft, das Dilemma. Der Export spielt für die meisten Firmen in dem Bereich, wie auch für Wilke, nur eine Nebenrolle.

Drei Menschen sind gestorben, wohl dutzende erkrankt. Über 100 Menschen bangen um ihren Arbeitspla­tz. Dass Verbrauche­r, jemals wieder Wurst unter dem Namen Wilke kaufen, erscheint fraglich. Aber es gibt ja noch viele andere Marken.

Höhere Preise akzeptiert der Handel nicht

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Foto: Maurizio Gambarini, dpa Für das Tierwohl gibt es mittlerwei­le Label, für die Arbeitsbed­ingungen in der Fleischind­ustrie nicht.

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