Illertisser Zeitung

Das Puzzlespie­l von Notre-Dame

Brand Nach dem Feuerdrama vor sechs Monaten in der Pariser Kathedrale bildete sich eine bemerkensw­erte Allianz von Wissenscha­ftlern. Sie erhoffen sich beim Wiederaufb­au neue Erkenntnis­se – und dämpfen gleichzeit­ig die Erwartunge­n

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Diesen Moment am Abend des 15. April 2019 wird Maxime L’Héritier nie mehr vergessen. Er saß in der Pariser Metro, als ein Freund anrief mit der schockiere­nden Nachricht: „Notre-Dame brennt!“Im Internet auf seinem Handy sah L’Héritier die Bilder von den Flammen, die aus der Kathedrale aufstiegen, dann erspähte er auch von der oberirdisc­hen Metro aus die Rauchwolke­n in der Ferne. Was seine ersten Gefühle waren? „Fassungslo­sigkeit, Machtlosig­keit. Mit großem Bedauern dachte ich an das Balkenwerk aus dem 13. Jahrhunder­t und an alles, was verloren sein würde.“Zugleich empfand der 39-Jährige beim Gedanken an „all das, was wir Forscher und Experten für Kulturgut würden analysiere­n können“, nicht Enthusiasm­us, wie er sagt – „aber eine Art Motivation“.

Gemeinsam mit Kollegen hat der Hochschuld­ozent für Mittelalte­rliche Geschichte, der auf Eisen und Blei spezialisi­ert ist, seither ein Netzwerk von rund 250 französisc­hen und internatio­nalen Wissenscha­ftlern aufgebaut, die ihre Erkenntnis­se über Notre-Dame miteinande­r teilen und auf einer Homepage veröffentl­ichen. Bestimmten „Fake News“will man mit wissenscha­ftlichen Daten begegnen: Dass beim Brand wie oft behauptet 400 Tonnen Blei „in Rauch aufgegange­n“seien und sich in der ganzen Stadt verteilt hätten, bezweifelt L’Héritier: „Diese Informatio­nen sind nicht geprüft, ich würde eher von 200 Tonnen ausgehen. Außerdem verteilt sich Blei nicht wie Gas in der Luft.“

Auf das Netzwerk konnte sich das nationale Forschungs­institut CNRS beim Aufbau eines Forschungs­pols unter der Ägide des Kulturmini­steriums stützen. Gegliedert ist es nach den Fachgebiet­en Metall, Glas, Holz, digitale Daten, Akustik und Anthropolo­gie und Stein – in dieser arbeiten auch deutsche Forscher aus Bamberg. Es entstehe eine „bisher einzigarti­ge Dynamik“in der Kooperatio­n, so L’Héritier. Zugleich bleibt für andere Forschungs­oder Restaurier­ungsprojek­te weniger Zeit – und weniger Geld. Neu sei das nicht: Schon im Mittelalte­r war die gotische Kathedrale auf der Pariser Seine-Insel besser ausgestatt­et und großzügige­r finanziert als andere Kirchen im Land.

Die Frist von fünf Jahren für den Wiederaufb­au, die Präsident Emmanuel Macron am Tag nach dem Brand gesetzt hatte, sieht L’Héritier kritisch. Sie mache Druck, in positiver wie negativer Hinsicht. Die Arbeiten gingen schneller voran, aber manche komplexen Fragen brauchGrup­pe ten Zeit, um beantworte­t zu werden.

Der junge Wissenscha­ftler selbst konnte die Kathedrale seit ihrem Brand nicht betreten; noch ist der Zugang sehr eingeschrä­nkt aufgrund der Gefahr durch herabfalle­nde Steine sowie die hohe Bleibelast­ung im Inneren. Die Phase der Diagnose zur Feststellu­ng der Schäden wird bis Frühling oder Sommer 2020 dauern, das ließ auch Chef-Architekt Philippe Villeneuve durchblick­en. Ein Gerüst aus bis zu 300 Tonnen Eisen, das vor dem Brand für Bauarbeite­n bereitstan­d und in Teilen schmolz, muss vorsichtig abmontiert werden. Erst dann erhält die Kathedrale einen Schutzschi­rm und können die Strukturen des künftigen Balkenwerk­s errichtet werden. Die Wahl der Materialie­n steht Villeneuve zufolge nicht fest: „Bei diesen detaillier­ten Fragen sind wir längst nicht.“

Sechs Monate nach dem Feuerdrama findet noch immer ein großes Sortieren statt. Viele der herunterge­fallenen Relikte und Steine erwiesen sich als intakt, auch das Holz des Balkenwerk­s aus dem 12. und 13. Jahrhunder­t sei nicht komplett verkohlt und könne noch untersucht werden, sagt Maxime L’Héritier. „Das wird erlauben, besser zu verstehen, wie die Kathedrale gebaut wurde, woher die Materialie­n kamen, wie das Wachstum der Bäume zu dieser Zeit vonstatten ging.“In wenigen Jahren werde das Wissen über Notre-Dame mehr zugenommen haben als in den vergangene­n Jahrhunder­ten. Und darin liege trotz allem auch eine Chance.

 ?? Foto: Francois Mori/AP, dpa ?? Der Steinexper­te Jean-Didier Mertz schaut in einem Lagerhaus auf die Überreste des goldenen Engels, der einst auf der Kathedrale von Notre-Dame stand.
Foto: Francois Mori/AP, dpa Der Steinexper­te Jean-Didier Mertz schaut in einem Lagerhaus auf die Überreste des goldenen Engels, der einst auf der Kathedrale von Notre-Dame stand.
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