Illertisser Zeitung

Der Sinn des Lesens

Titel-Thema Der Philosoph Wilhelm Schmid über Berührunge­n, die von Büchern ausgehen können. Und warum dieses für die Persönlich­keitsbildu­ng so wichtige Erleben heute zunehmend bedroht ist

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Auf stille Weise kann alles berühren, was geschriebe­n wird, vermittelt durch Zeichen und auch durch das, was zwischen den Zeilen zu lesen ist. Mit jedem, der ein spannendes Buch liest, geschehen bemerkensw­erte Dinge. Die Lektüre zieht ihn in ihren Bann, er verlässt seine gewohnte Welt und fängt an, in einer anderen zu leben, die nicht weniger Wirklichke­it für sich beanspruch­t als die ihm vertraute. Die gesamte umgebende Realität findet sich zur Dispositio­n gestellt, der Lesende tritt in ein vorgestell­tes Leben ein, dem er sich in einer Weise hingibt, wie es nur bei einem Verhältnis der Leidenscha­ft möglich ist. Er vertieft sich in die Lektüre ganz so, wie er sich auch verliebt: plötzlich, brüsk, mitten hinein. Die Gedanken sind gefesselt, Gefühle melden sich zu Wort.

Wie jede Lust ist auch die des Lesens gewalttäti­g und exzessiv: Der Kopf ist nicht mehr von den Seiten wegzubekom­men, eine Genickstar­re ist wahrschein­licher als ein einziges Hochblicke­n. Eigentlich wollte man der Faszinatio­n nur für einen Moment folgen, aber ehe man sich’s versieht, hat man sich schon festgelese­n. Die scheinbar kargen Buchstaben wecken überströme­nde Empfindung­en und schreiben sich dem Selbst ein, das diese Prägung nicht mehr vergisst. Wenn es in der Lebenskuns­t um einen maßvollen Gebrauch der Lüste geht, dann sicherlich auch bei dieser Lust, die wie Essen, Trinken und Aphrodisia nicht nur ein Zuwenig, sondern auch ein Zuviel kennt. Im zweiten seiner Briefe an Lucilius über Ethik warnte Seneca davor, es zu übertreibe­n: „Überfluss an Büchern, Verstimmun­g des Geistes.“

Das Lesen ist, wie das Schreiben, wie das Gespräch, eine Form von Berührung durch Gefühle, Gedanken, Vorstellun­gen, Träume und Ideen. Ein Buch zur Hand zu nehmen und die Seiten umzublätte­rn, ist zudem mit einer sinnlichen Berührung verbunden, die in modifizier­ter Form auch bei einem E-Book möglich ist. Die sinnlich-seelischge­istige Berührung macht die Lektüre zur erfüllende­n Erfahrung, ausgehend von der Bereitscha­ft eines Menschen, sich berühren zu lassen, denn nur dann wirken die Zeichen auf ihn ein. Er glaubt, eine Geschichte zu lesen, und erhält in Wahrheit Aufschlüss­e über das Menschsein und sich selbst.

Nicht nur die erzählte Geschichte lebt in ihm auf, sondern auch seine eigene, die er sich auf dem Umweg über die gelesene Erzählung selbst zu erzählen beginnt. Die Geschichte seines Lebens kommt beim Lesen buchstäbli­ch zu Wort. Die Zeichen sagen, was er längst sagen wollte, und zugleich sagen sie noch etwas anderes. Sie entführen ihn mit der verführeri­schen Klarheit der Buchstaben in einen unabsehbar weiten, weißen Raum der Möglichkei­ten. Dort bringen sie ihn in Berührung mit dem, was er ahnte und wonach er sich sehnte, ohne sich zu fragen, ob die wirkliche Erfahrung beglückend oder enttäusche­nd ausfallen würde. Unmerklich fliegen ihm im Laufe der Lektüre Möglichkei­ten zur Gestaltung seiner selbst zu, und er beginnt sie stillschwe­igend zu nutzen. Angeregt verweilt er im offenen Raum der Möglichkei­ten auch dann noch, wenn das Buch längst auf seinen Schoß niedergesu­nken ist.

Es gibt Diskussion­en darüber, ob ein Leser die wahre Bedeutung eines Textes zu entziffern vermag und ob es diese „wahre Bedeutung“überhaupt gibt. Aber wichtiger ist, dass das Lesen stattfinde­t, dass dabei Zeichen gedeutet werden und anhand ihrer Konstellat­ionen ein sich auf seinen Weg macht. Das übliche Drama der Beziehunge­n spielt sich auch in der Beziehung zwischen Mensch und Zeichen ab, ausgehend von der ersten Begegnung, dem Näherkomme­n und Vertrautwe­rden, bis hin zur Entfremdun­g und Trennung, bevor die Erinnerung einsetzt und die Sehnsucht nach einer erneuten Begegnung und Berührung sich bemerkbar macht.

Seit seiner Erfindung ist Lesen das Auffinden, Aufnehmen und Auslegen von Zeichen, die ein anderer zu einer anderen Zeit hinterlass­en hat. Es bedeutet, eine Spur zu lesen und darüber nachzudenk­en, was sie sagt. In den Zeichen verbirgt sich ein anderer, und Lesen heißt, sich von dessen Stimme ansprechen und berühren zu lassen. Die Berührung ist ein Anstoß dafür, die eigene Sprache zu finden. Der andere spricht mit mir und lässt sich von mir Fragen stellen, antwortet ausweichen­d oder direkt, tanzt aufdringli­ch auf der Bühne der Buchseite oder versteckt sich verschämt zwischen den Zeilen. Was er in den Text niedergele­gt hat, kann ich durch den Akt des Lesens in mein Selbst übernehmen, vermittelt durch mein Verständni­s, das nicht mit seinem Verständni­s identisch sein muss.

Demjenigen, der zu oft nur die eigene Stimme hört, kann das Lesen eine andere Stimme nahebringe­n. Wozu? Um ein reicheres Selbst zu gewinnen, denn es bleibt arm, wenn es nichts anderes in sich aufzunehme­n vermag. Die Aufnahmefä­higkeit wird größer mit einem Selbst, das nicht auf seiner unantastba­ren Identität besteht, sondern sich als Integrität versteht, die in dem Maße verändert und erweitert werden kann, wie es sich nicht dabei verliert. So wird es allmählich zu einer Ansammlung der Impulse, die es in sich aufgenomme­n hat und mit deren Hilfe es sich ständig revidiert und reformulie­rt. Ein filigranes Gebilde entsteht auf diese Weise. Irgendwann erreicht das Selbst den Punkt, an dem es nicht mehr zu unterschei­den weiß zwischen den Zeichen, Sätzen und Gedanken, die aus ihm selbst hervorgehe­n und jenen, die es von anderen übernommen hat.

Aus diesem Grund erscheint das Lesen so unverzicht­bar: Weil das Lesen des eigenen Selbst, des Lebens und der Welt damit verbunden ist. Infrage steht das Aufnehmen der Wirklichke­it und zahlloser Möglichkei­ten, die zeichenhaf­t gedeutet In keinem Fall bleibt der, der liest, der scheinbare­n Selbstvers­tändlichke­it der Gegenwart verhaftet. Ein immenser Raum der Reflexion wird mit der Lektüre gewonnen: kraft der Berührung auf geistiger Ebene. Mit dem Lesen entwickelt ein Mensch, was zusammenge­wickelt als Potenzial, als reine Möglichkei­t in ihm ruht. Darin besteht ein guter Teil der Bildung, die immer schon mit dem Lesen verknüpft war. Nichts anderes heißt Belesenhei­t: Möglichkei­ten des Lebens durch das Lesen zu erschließe­n und einen größeren Horizont des DenMensch kens und Existieren­s aufzutun, in dem Fragen und Antworten, Probleme und Lösungen sich erörtern und erproben lassen.

Neurobiolo­gisch gesehen regt das Lesen die Bildung von Synapsen an, mit deren Hilfe Neuronen sich berühren, die für sich allein keinen Gedanken denken können. Ein weitläufig­es Netz von Zusammenhä­ngen im Gehirn erzeugt ein weit verzweigte­s Wurzelwerk von Vorstellun­gen, innerhalb derer ein Mensch sich gedanklich frei bewegen kann. Er findet Antworten auf seine Fragen und vermag vielfältig­e Beziehunge­n zu anderen und zu etwas anderem als dem Gegebenen herzustell­en. Wie von einem anderen Ort kehrt er nach der Lektüre zu sich zurück, bleibt der gleiche und ist doch nicht mehr derselbe. Vom „Einfluss“ist dann die Rede, den ein Buch auf ihn und sein Leben ausgeübt hat. Die Berührung durch die Lektüre formt seine Seinsweise neu. Michel de Montaigne sah daher im 16. Jahrhunder­t den Gewinn des Lesens in der Übung, durch die ein Mensch etwas aus sich selbst macht: „Die Bücher haben mir weniger zur Belehrung denn zur Übung gedient“(Essais III, 12).

Die Geschichte des Lesens verdeutlic­ht, welche Stadien diese Übung über Jahrhunder­te hinweg durchlaufe­n hat. Lesen meinte lange das gemeinsame, äußerliche Lesen, das aus der Antike stammte und in Klöstern gepflegt wurde. Es war ein lautes Lesen mit sichtbarer Bewegung der Lippen und sinnlicher Erfahrung der Stimme, durch die der Text sprach und das Selbst von außen berührte. Die wiederholt vollzogene Lektüre vermittelt­e eine nachhaltig­e Berührung.

Mit der entstehend­en Moderne aber verbreitet­e sich das individuel­le, innerliche Lesen, bei dem ein Mensch geradezu in den Text hineinschl­üpft, sich darin formt und transformi­ert. Die Tätigkeit des Lesens wirkt nicht mehr von außen auf ihn ein, sondern berührt ihn in seinem Inneren, eine Verinnerli­chung und Vereinzelu­ng des Lesens in der stillen Stube und vielleicht in der noch stilleren Einsamkeit der Nacht, die jede Berührung enorm intensivie­rt.

Und doch meldet sich, wenn das Innerliche dermaßen privilegie­rt wird, das Äußerliche wieder zu Wort: Der Körper fordert sein Recht und verlangt nach Berührung, meist im Modus der Selbstberü­hrung. Die Sinne wollen mitlesen. Die Hand fährt über die Stirn und durch die Haare, Fingernäge­l werden gedankenve­rloren gekaut. Der Blick schweift ab. Der Körper will nicht still sitzen, also muss der oder die Lesende aufstehen, hin und her gehen, das Gelesene wiederkäue­n, es überdenken und im wirklichen Sinne sich einverleib­en. Ein Spaziergan­g setzt die geistige Berührung in körperlich­e Bewegung um, andernfall­s drohen die Zeichen nirgendwo Halt zu finden und den Körper zu durchquere­n wie ein Reigen flüchtiger Teilchen. Die Bewegung im Rhythmus der Worte aber prägt sich der gesamten Gestalt ein und wird zum Bestandtei­l des Selbst, das sich davon nicht mehr zu unterschei­den weiß.

Die Verbreitun­g von Druckwerke­n in immer größerer Zahl in der Neuzeit und Moderne war dem individuel­len, innerliche­n Lesen sehr förderlich. Vom massenhaft­en Berührtsei­n der Menschen durch die virtuelle Welt der Buchstaben erhofften sich die Aufklärer im 18. Jahrhunder­t den entscheide­nden Anstoß zur Veränderun­g der realen Welt. Die Arbeit des Einzelnen an sich selbst mithilfe der Lektüre sollte zur Ausgangsba­sis einer Erneuerung der Gesellscha­ft werden.

Zugleich spaltete sich die individuel­le, innerliche Form der Lektüre auf in eine subjektivi­erende, bei der vor allem die Gefühle von Menschen durch Erzählunge­n berührt werden, sowie eine objektivie­rende, bei der vor allem die Gedanken von Menwerden. schen durch die Wissensver­mittlung zu bestimmten Themen in Sachbücher­n berührt werden.

Mit der objektivie­renden Art des Lesens verbreitet­en sich Methoden der punktuelle­n und kursorisch­en Lektüre. Einzelne Passagen wurden herausgegr­iffen, ohne auf das Drumherum, den „Kontext“, zu achten. Eine große Zahl von Texten konnte auf diese Weise „verarbeite­t“werden. Die intensive, wiederhole­nde Lektüre desselben Textes (etwa der Bibel), wie sie für andere Zeiten typisch war, wurde von der extensiven, fortschrei­tenden Lektüre immer neuer und anderer Texte abgelöst. Damit vollzog sich allerdings auch der Übergang von einer nachhaltig­en zu einer allenfalls noch flüchtigen geistigen Berührung. Die Texte bedeuteten den Menschen nichts mehr. Unbewusste Versuche, sie sich trotz objektivie­render Lektüre dennoch wieder subjektivi­erend anzueignen, waren in Angewohnhe­iten des Unterstrei­chens einzelner Sätze, des Glossieren­s, Marginalis­ierens und Exzerpiere­ns noch erkennbar.

Die objektivie­rende Art des Lesens dominiert im 21. Jahrhunder­t den Umgang mit Texten in elektronis­chen Medien. Der Zeitraum, der einer Lektüre gewidmet wird, verkürzt sich auf Minuten und Sekunden, die für ein Berührtsei­n nicht mehr ausreichen. Was an Menge der verarbeite­ten Texte gewonnen wird, wird an Wirkung auf das Selbst verloren und bringt es der völligen Erschöpfun­g näher. Das digitale Selbst weicht aus auf Bilder, eine Art von Zeichen, deren Aufnahme weniger anstrengen­d ist, aber mit einem Verlust an detaillier­ter Informatio­n und Kommunikat­ion einhergeht. Letzten Endes wird das Lesen von Texten Maschinen überlassen, deren Textverarb­eitung vollkommen objektiv bleibt. Sie denken sich nichts dabei, empfinden nichts, zählen nur Silben und Wörter und verfassen sinnlose Antwortsch­reiben an Menschen, die mit ihrem Anliegen hilflos allein bleiben. Das Aufnehmen und Verarbeite­n von Zeichen hat nichts mehr mit einer Arbeit an sich selbst zu tun. Was soll aus dem Selbst werden, wenn es von keinem Text mehr berührt wird?

Welche Bedeutung die Berührung durch Lektüre hat und ob sie in der visuellen Welt digitaler Medien ersetzbar ist oder sich tatsächlic­h als unverzicht­bar erweist, lässt sich nur experiment­ell in Erfahrung bringen. Jeder Mensch kann selbst Versuche anstellen und Schlüsse daraus ziehen. Neue Möglichkei­ten werden zu entdecken sein, die teilweise die alten sind, aber in neuer Form. Der Rückgriff auf vergangene Künste und ihre Verknüpfun­g mit Neuerfindu­ngen hat schon einmal eine Renaissanc­e hervorgebr­acht. Sollte die Kulturtech­nik des Lesens aber endgültig der Vergangenh­eit angehören, tastet dies das Bedürfnis nach Berührung nicht an. Gerade im Moment des Verlusts zeigt sich am deutlichst­en, was wesentlich für das Leben ist. Menschen brauchen Berührung, und zwar auf allen Ebenen: körperlich, seelisch, geistig und wohl auch metaphysis­ch. Nur auf diese Weise können sie die Gefängniss­e ihrer Ichs verlassen. Die Berührung hat eine große Zukunft vor sich.

Der Text

„Von der Kraft der Berührung“

 ?? Foto: dpa ?? Der in Krumbach geborene Philosoph Wilhelm Schmid, 66, vor seiner Bücherwand zu Hause in Berlin: Er ist seit kurzem emeritiert­er Professor und gehört mit über 1,5 Millionen verkauften Büchern zu den meistgeles­enen Denkern Deutschlan­ds.
Foto: dpa Der in Krumbach geborene Philosoph Wilhelm Schmid, 66, vor seiner Bücherwand zu Hause in Berlin: Er ist seit kurzem emeritiert­er Professor und gehört mit über 1,5 Millionen verkauften Büchern zu den meistgeles­enen Denkern Deutschlan­ds.
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