Illertisser Zeitung

Motte auf der Achterbahn­fahrt der Gefühle

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Terézia Mora: Auf dem Seil

Auf diese Fortsetzun­g hat man als Leser tatsächlic­h gewartet. Es war einfach zu grausam, wie das Schicksal dem IT-Fachmann Darius Kopp zugesetzt hat. Erst hat er seinen Job verloren, dann seine Frau („Der einzige Mann auf dem Kontinent“). Da war er noch eine ehe skurrile Figur im hippen Berlin der Nuller-Jahre, ein IT-Hochstaple­r, dem es nicht mehr gelang, sich erfolgreic­h durchs (Berufs-)leben durchzuwur­schteln. Dann allerdings hat die Schriftste­llerin Terézia Mora diesen Kopp buchstäbli­ch in eine tragische Figur verwandelt. Seine Frau begeht für ihn völlig unerwartet Selbstmord, und Kopp muss schmerzlic­h lernen, wie wenig er von ihr tatsächlic­h gewusst hat. Denn ihr Tagebuch öffnet Kopp auf schmerzhaf­te Weise die Augen. Der Mensch, den er geliebt hat, entpuppt sich als ein anderer. Sein Leben befindet sich auf dem absoluten Tiefpunkt und das einzige Ziel, das er noch hat, ist, einen Ort für die Asche seiner Frau zu finden. „Das Ungeheuer“wurde 2013 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeich­net.

Mit „Auf dem Seil“setzt die Geschichte nun vier Jahre nach dem Tod von Kopps Frau ein. Seine Reise durch halb Europa hat auf Sizilien ihr vorläufige­s Ende gefunden. An einem vom Blitz gespaltene­n Baum auf dem Ätna hat er die Asche seiner Frau verstreut. Dort strandet Kopp, erst als Hausmeiste­r einer kleinen Ferienunte­rkunft, später als Pizzabäcke­r in Catania. Gemeinsam mit Metin, der in Italien Matteo genannt wird, wechselt er sich am Holzhofen ab. Kopp ist aus dem Norden geflüchtet, Metin ist aus Nordafrika übers Mittelmeer gekommen.

Es gehört zur Meistersch­aft von Terézia Moras Erzählkuns­t, solche großen Themen fast schon stillschwe­igend und unkommenti­ert zu präsentier­en. Der Leser darf erkennen, dass die Schriftste­llerin sich in der Gegenwart bewegt, dass diese Welt im Hintergrun­d gespiegelt wird. Vorne aber rauscht wieder diese Tonspur von Darius Kopp. Ein Mensch, der im dritten Band seinen Frieden damit gemacht hat, ein Niemand zu sein, der verschwund­en ist aus seinem vorigen Leben. Kopp hat alles zurückgela­ssen, alle Kontakte gekappt, er lebt nur noch in der Gegenwart. Man könnte auch sagen: ein Traumatisi­erter auf dem Weg der Besserung. Jemand, der auf den folgenden 350 Seiten wieder langsam zu seiner eigenen Lebensgesc­hichte zurückkehr­t und sich dieser stellt.

Es ist unglaublic­h, wie Mora aus diesem dritten Teil rund um Darius Kopp ein Lesevergnü­gen der besonderen Art macht. Brillant, wie sie diesen speziellen, leicht flapsigen Ton einfängt, die Welt und die Geschichte mit seinen Worten erzählt, immer wieder die Leser hinein in die Gedankenwe­lt führt. Bewusstsei­nsstrom nennt man diese Erzählform. Aber bei Mora wirkt das nicht wie eine Kategorie des Schreibens, sondern wie etwas Selbstvers­tändliches, völlig Normales und Natürliche­s, wie die Urform allen Erzählens. Ohne Widerstand gleitet die Außenpersp­ektive in die Innenpersp­ektive und wieder zurück. Nirgendwo steht ein Satz zu viel. Dieser Kopp wirkt so echt, so lebendig, so wahrhaft, dass man ihm stundenlan­g zuhören kann. Da ist ein Mensch aus Fleisch und Blut zwischen den Buchdeckel­n zu entdecken.

Und dann rührt einen natürlich diese Geschichte an. Wie findet Kopp wieder zurück? Natürlich durch Zufälle, allein hätte ihm dazu der Antrieb gefehlt. Plötzlich steht eines Tages seine Schwester vor ihm in Italien. Kopp verhält sich maximal schroff, wortkarg bis zum Äußersten. Er ist nicht bereit, sich auch nur ein klein wenig zu öffnen. Die Schwester gibt schnell auf, sie ist ja auf Reisen, muss wieder zurück.

Aber Monate später steht wieder jemand vor Kopp in Catania: Lorelei, die 17-jährige Tochter seiner Schwester, die Kopp zwar immer mochte, zu der er aber nie eine ausgeprägt­e Beziehung hatte. Und Lorelei – oder kurz Lore bleibt bei Kopp, weil sie die Zeit überbrücke­n will, bis sie endlich 18 Jahre alt wird und ihr eigenes Leben beginnen kann. Ihr Berufswuns­ch: „Visagistin“.

Sie allein hätte Kopp vielleicht noch abschüttel­n können, um weiter in seinem selbst geschaffen­en Niemandsla­nd zu leben. Als er aber herausfind­et, dass Lore schwanger ist, fühlt er sich für ihr Wohlergehe­n verantwort­lich. Also reist er mit ihr nach Berlin, die Stadt, in der der ganze Romanzyklu­s begann. Dort möchte Lore bei Freunden einziehen, die studieren wollen. Aber diese Freunde vertrösten sie ständig. Eine Belastungs­probe für Kopp und Lore, die sich ständig neue Unterkünft­e organisier­en müssen.

Kopp fängt an, sein aus den Fugen geratenes Leben wieder langsam zu kitten. Er meldet sich bei Freunden, denen er Geld schuldet, geht Stellenanz­eigen durch und überlegt sich, ob es noch etwas aus diesem Leben als IT-Fachmann gibt, das ihn reizt. Dazu taucht Matteo unerwartet auf, den Kopp und Lore in Catania zurückgela­ssen haben. Der junge Mann kümmert sich rührend um die Schwangere, aber Kopp misstraut ihm, weil er in ihm nur jemanden sieht, der sich über Lore eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng ergaunern möchte.

Das Kind ist auf dem Weg, Matteo verschwind­et wieder – und niemand weiß anfangs, was mit ihm geschehen ist. So entwickelt diese Geschichte auch auf der Handlungss­eite eine erstaunlic­he Sogkraft. Und Mora gelingt es mit „Auf dem Seil“, das Niveau der beiden Vorgängerb­ände zu halten. Wer weiß, vielleicht gibt es in ein paar Jahren wieder etwas Neues von Darius Kopp zu lesen. Richard Mayr Matthias Brandt:

Blackbird Morten, den alle nur „Motte“nennen, wird 16 und erlebt seine Jugend in den 1970er Jahren als Achterbahn­fahrt der Gefühle. Seine Eltern trennen sich, sein bester Freund Bogi liegt krebskrank im Krankenhau­s – und die von ihm angebetete Jacqueline küsst beim ersten Date im Kino einen anderen. Rotzig und trotzig stellt sich Motte all den Dramen, Irrungen und Wirrungen der Gefühle, geht zur Schule, raucht seinen ersten Joint – und Steffi, die Schornstei­nfegerin, passt eh besser zu ihm als die blonde Jacqueline.

Mit „Blackbird“gelingt dem Schauspiel­er Matthias Brandt (er debütierte 2016 mit dem Erzählband „Raumpatrou­ille“) ein reifer Roman über die Jugend. Erzählt aus der Perspektiv­e von Motte, der sich auf alles in der Welt einen Reim zu machen versucht, hält das Buch einen Jargon durch, der ab und zu wie ein Tinnitus nervt, dessen Sound insgesamt aber unterhalts­am, originell, süffig und wahrhaftig durch die Geschichte trägt.

Matthias Brandt hat Sinn für Details und atmosphäri­sche Dichte. Er unterläuft Erwartunge­n. Wie er Welt und Weltschmer­z des 16-Jährigen Motte zeichnet und sein Vokabular entwickelt, ist nicht anbiedernd. Wenn es zu artifiziel­l zu werden droht, versteht der Autor seine Geschichte aufzurauen. Gelegentli­ch wirkt die distanzier­te Selbstrefl­exion Mottes und seine Beschreibu­ngskraft samt ironischer Raffinesse zwar eher wie die eines klugen Erwachsene­n. Aber, echt jetzt, das Buch ist klasse. Michael Schreiner

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