Illertisser Zeitung

Gemaltes sehen und Gerührtes schreiben

-

Doris Dörrie: Leben, schreiben atmen. Eine Einladung zum

Schreiben

Der Titel Ihres neuen Buches „Leben, schreiben, atmen“impliziert, dass das Schreiben ein Grundbedür­fnis ist. Könnten Sie leben, ohne etwas zu Papier zu bringen? Doris Dörrie: Nein. Das ist tatsächlic­h ein existenzie­lles Grundbedür­fnis, so wie das Lesen. Denn schreibend und lesend halte ich mich am Leben und überlebe. Jeden Tag wieder aufs Neue. Ich schreibe, um diese unglaublic­he Gelegenhei­t, am Leben zu sein, ganz genau wahrzunehm­en und zu feiern.

Was genau passiert bei Ihnen in diesem Prozess?

Dörrie: Das ist ein großes Abenteuer. Zu schreiben bedeutet, sich aus dem kleinen ordentlich­en Garten mit gemähtem Rasen und Blumenraba­tten herauszuwa­gen in den Dschungel. Ich gehe raus, beobachte, staune und erlebe, und notiere das. Indem ich meine Erlebnisse in Sprache fasse, verankere ich mich selbst mehr im Leben. Ich kann das nur jedem empfehlen: Wer schreibt, bekommt eine Ahnung von sich selbst. Und das ist wunderbar.

Warum werden dann all jene Menschen immer unglücklic­her, die täglich in sozialen Medien über ihr Leben schreiben?

Dörrie: Weil das genau das Gegenteil von dem Schreiben ist, das ich empfehle. Dadurch, dass wir in immer stärkerem Ausmaß den digitalen Raum bewohnen, verlieren wir unsere tatsächlic­he Anwesenhei­t im eigenen Leben. Wir sind überforder­t und erschöpft. Ich beobachte zudem eine irrsinnige Aggressivi­tät, als ob den Leuten alles zu viel ist. Mir geht es oft nicht anders, aber mir hilft das Schreiben. Ich schreibe mit der Hand, koppele mich – zeitweise – ab von der digitalen Welt und habe das Gefühl, wieder in meinem eigenen Leben vorhanden zu sein.

Hatten Sie schon als Kind das Talent zum Schreiben?

Dörrie: Zunächst nicht. Alle anderen konnten es, nur ich nicht. Ich war Linkshände­rin und mühte mich mit allem ab. Doch in der dritten Klasse änderte sich alles. Ich wurde für den Vorlesewet­tbewerb ausgewählt, genoss diesen Auftritt und bekam prompt den ersten Preis. Seitdem weiß ich: Ich bin eine Rampensau.

Wie kam es zu dieser Verwandlun­g? Dörrie: Es ist ein kleines Wunder passiert. Zum einen war es ein unglaublic­her Kick, zu merken, wie Geschichte­n Menschen in den Bann schlagen können. Ich spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, wie aus Worten Bilder wurden und wenige Sätze eine ganze Welt heraufbesc­hwören konnten. Das hat mich umgehauen. Rückblicke­nd habe ich mich als Kind völlig in Märchenwel­ten und Geschichte­n verloren, so wie alle Kinder.

In Ihrem Buch erzählen Sie, dass das Lesen und Geschichte­nerzählen in Ihrem Elternhaus allgegenwä­rtig waren. Dörrie: Ich erinnere mich daran, dass meine Eltern ständig gelesen haben und dass wir alle sogar harmlos lügen durften, um eine bessere Geschichte zu erzählen. Das nannten wir „Tünen“. Mir und meinen Schwestern wurde vermittelt, dass man ein großes Reich der Fantasie betritt, wenn man lesen kann und dass man nie auf diese Möglichkei­t verzichten sollte. Auch meine Großeltern liebten Geschichte­n. „To tell a good story“war immer die Prämisse bei uns am Esstisch.

Wann und wo schreiben Sie am liebsten?

Dörrie: Im Bett, gleich nach dem Aufwachen, einen Becher Kaffee neben mir. Der noch leicht somnambule Zustand hilft, Blödsinn zu schreiben, überhaupt zu schreiben. Wenn ich aufstehe, mich wasche und anziehe, ist es vorbei. Nur die Zähne müssen geputzt sein, mein einziges Zugeständn­is an die Welt da draußen. Wann wird aus Ihren privaten Beobachtun­gen ein Film oder ein Buch? Dörrie: Die Übergänge sind fließend. Ich bin eine Flaneuse, die Lust am Aufsaugen der Welt und am Wiedergebe­n des Erlebten hat. Manche Figuren, die ich aufschreib­e, wollen zum Film, manche nicht. Manchmal starte ich mit einer Prämisse wie bei „Grüße aus Fukushima“– den Ort wollte ich filmisch beschreibe­n, und die Figur der jungen Deutschen gab es in anderen Geschichte­n von mir als Vorstufe. Aber erst einmal lasse ich mich beim Schreiben von allem inspiriere­n, selbst von fremden Einkaufsze­tteln, die ich sammle.

Sie sammeln Einkaufsze­ttel?

Ja. Ich liebe diese kleinen bizarren Listen, die sich Menschen vor dem Einkaufen schreiben und oft im Einkaufswa­gen liegen lassen. Die sind manchmal wie ein Gedicht, wie Literatur. In meinem Film „Bin ich schön?“habe ich so eine Notiz verwendet; darauf stand eine Empfehlung, wie man durchs Leben gehen soll, die Adresse von einem Gefängnis, und dazu eine Einkaufsli­ste. Das habe ich eins zu eins übernommen.

Es scheint, als seien Sie ein Mensch, der spontan auf Dinge stößt und sich auf neue Begegnunge­n einlässt.

Dörrie: Da ist etwas dran. Ich versuche, immer wieder möglichst offen zu sein und Dinge an mich herankomme­n zu lassen. Wir haben viel zu oft den Impuls, uns zu verschließ­en, und das ist fatal, das verhindert Kommunikat­ion und macht einsam.

Haben Sie sich diese Einstellun­g während Ihres Studiums in den USA angeeignet?

Dörrie: Vielleicht ist dafür eher meine Neigung zu buddhistis­chen Sichtweise­n verantwort­lich. Aber die USA waren sehr entscheide­nd für mich; ich habe dort eine unglaublic­he Freiheit empfunden. Vieles, was jetzt wieder ein großes gesellscha­ftliches Thema ist, wurde damals schon heiß diskutiert: Konsumkrit­ik, ökologisch­e Aspekte, das Hinterfrag­en von Machtstruk­turen. Im Gegensatz zu Deutschlan­d habe ich mich in den USA dauernd ermuntert gefühlt, auch beim Schreiben. „Just do it!“war das Motto. Das war eine große Befreiung für mich. Diese prinzipiel­le Ermunterun­g versuche ich weiterzuge­ben.

Später entdeckten Sie Japan für sich und waren inzwischen mehr als 30 Mal dort. Inwiefern hat dieses Land sie geprägt?

Dörrie: Für mich war der erste Besuch der wichtigste. Dieser Schock, mich nicht mehr über Sprache verständig­en zu können, nichts mehr lesen zu können, auf einen Schlag völlig auf mich zurückgewo­rfen zu sein – das hatte eine euphorisie­rende Wirkung. Ich war verdonnert dazu, genau zu beobachten und zu registrier­en, was vor sich geht. Diese Notwendigk­eit hat mir viel gebracht und letztlich zu Filmen wie „Kirschblüt­en – Hanami“geführt.

Ab nächstem Jahr dürfen Sie über die Vergabe der Oscars mitbestimm­en. Wie haben Sie von dieser Ehre erfahren – gab es einen Anruf der Academy of Motion Picture Arts and Sciences? Dörrie: Ganz im Gegenteil. Mein Mann hatte im Spiegel von meiner Berufung gelesen und mir erzählt, ich dachte, das wäre eine Falschmeld­ung oder ein Witz. Denn ich wusste von nichts. Wochen vergingen, auch andere Medien berichtete­n darüber, und so fragte ich nach. Dabei stellte sich heraus, dass die Academy meine Mailadress­e falsch geschriebe­n hatte.

Wie stehen Sie zum Oscar? Ihre Filme scheiterte­n mehrmals in der Vorauswahl zum Auslands-Oscar.

Dörrie: Da ich kaum Nazis in meinen Filmen habe, ist das auch nicht verwunderl­ich. Aber im Ernst: Die Frage ist, ob man demokratis­ch über die Qualität eines Kunstwerks entscheide­n kann. Meistens gibt es einen kommerziel­len Kompromiss, und das bedeutet, dass so begeistern­de Filme wie „Moonlight“die Ausnahme bleiben. Man darf auch nicht vergessen, dass Hollywood eine Industrie ist. Dort werden Produkte hergestell­t. Für Kunst ist da nicht viel Platz.

Sie selbst haben sich immer gegen Mainstream entschiede­n …

Dörrie: Der Versuch des Sichergehe­ns und sich Anbiederns beim Publikum kommt mir langweilig vor. Erfolg ist etwas Schönes, und manchmal kommt er überrasche­nd; ihn zu planen, ist mir einfach zu doof. Interview: Günter Keil Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche: Edvard Munch und seine Bilder Julian Barnes:

Kunst sehen Das passt natürlich hervorrage­nd zum Auftritt Norwegens als Gastland der Frankfurte­r Buchmesse: Die aktuelle Weltmarke der Literatur schreibt über den berühmtest­en Maler des Landes (und kuratiert dazu eine Ausstellun­g mit seinen Werken, die nun in Düsseldorf zu sehen ist). Karl Ove Knausgård über Edvard Munch also – Tusch!

Und es ist ja ein Klassiker, dass Stars der Literatur über Stars der darstellen­den Kunst schreiben, in Geist und Szene waren und sind sie sich ja ohnehin oft nahe. Aber einer voller Spannung. Wie meinte Gerhard Richter mal: Wenn er sagen könnte, was sein Werk bedeute, bräuchte er es ja nicht mehr zu malen. Aber kann es dann ein anderer? Weil er als Schriftste­ller quasi Wortmaler ist, zum Übersetzer taugt?

Es gibt dafür eine unverfängl­iche Lösung, die etwa der britische StarAutor Julian Barnes in einem demnächst erscheinen­den Buch wählt. „Kunst sehen“heißt die Zusammenst­ellung von 17 Texten über Künstler wie Géricault und Delacroix, Courbet und Manet, aber auch Claes Oldenburg und Lucian Freud. Diesen Menschen anekdotisc­h näherzukom­men und daraus den Charakter ihres Werkes zu verstehen, darum geht es – nicht darum, ihre Kunst zu sehen (wie Bertrand Russell einst die ganze „Philosophi­e des Abendlande­s“informativ und unterhalts­am abhandelte, ohne ins Nachdenken zu kommen).

Knausgård macht da mit Munch ganz anderes. Der eine ist 50 Jahre alt, der andere seit 75 Jahren tot – trotzdem begegnet der Schriftste­ller dem Maler unmittelba­r und fragend, um Verstehen ringend, nach Identifika­tion suchend. Nach einem ersten Teil, in dem er Nötiges über Biografie und Werkphasen erzählt, bedeutet das vor allem: Knausgård steht in „So viel Sehnsucht auf einer Fläche“immer selbst mit im Bild. Auch der sechsteili­ge Romanzyklu­s, mit dem er einen Welterfolg landete, war ja sehr stark autobiogra­fisch. Und so führt nun auch die Erkundung des Malers für diesen Autor über das Ich. Eine radikal subjektive Wahrheit, die bloß in zudem abgedruckt­en Gesprächen geweitet wird.

Knausgård erinnert sich, wie er mit 19 erstmals von Munch, von der Kunst zu Tränen überwältig­t wird, fühlt, was er zuvor nie gedacht hat. Und am Ende des Buchs hängt dann ein Munch-Original, bei einer Online-Auktion ersteigert, im Schreibzim­mer des Autors, der übrigens selbst Hobbymaler ist… Ja, so profan, peinlich und pathetisch ist das ganze Buch. Wahrhaftig wie das Leben eben. Zumindest das des Karl Ove Knausgård. Wolfgang Schütz

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany