Illertisser Zeitung

Horror eines Heimkindes

Porträt Konrad Trapp wächst in einem evangelisc­hen Kinderheim auf – mit Schlägen, Drohungen, ständiger Angst. Sein ganzes späteres Leben wird von diesen Erfahrunge­n bestimmt. Dann, mit 61 Jahren, fasst er einen mutigen Entschluss

- VON JÖRG HEINZLE

Augsburg Er hat sie immer noch, diese Angewohnhe­it aus Kindertage­n. Wenn Konrad Trapp, 61, im Bett liegt, wackelt er oft mit dem Kopf hin und her. Unterbewus­st. Fachleute nennen das Jaktation. Die Betroffene­n beruhigen sich auf diese Weise selbst, sie können sich sogar in eine Art Trance versetzen. Konrad Trapp musste sich als Kind selbst in den Schlaf wiegen. Er hatte niemanden, der sich liebevoll um ihn kümmerte. Er wuchs im evangelisc­hen Kinderheim im Augsburger Stadtteil Hochzoll auf. Und dort herrschte, wie er es schildert, in den 1960er und 70er Jahren noch ein raues Klima. Mit Erziehungs­methoden, die ihn immer noch belasten. Und die, wie er sagt, sein ganzes Leben beeinfluss­t haben.

Heute, Jahrzehnte später, fällt es Konrad Trapp nach wie vor schwer, über seine Kindheit und Jugend in dem Heim zu sprechen. Er kämpft dabei mit den Tränen. Doch er will jetzt von seinem Schicksal als Heimkind erzählen. Und noch viel mehr: Er will zurück an jenen Ort, an dem er zwar als Kind und Jugendlich­er gelebt hat, sich aber nie richtig zu Hause fühlen konnte. Er will mit den Verantwort­lichen von heute sprechen. Und sehen, wie Kinder jetzt dort leben. Doch er ist etwas unsicher, als er schließlic­h vor dem Hauptgebäu­de steht. Wird man ihm glauben? Wie sehr wird es ihn aufwühlen, die Räume zu sehen, in denen er lebte – aber auch eingesperr­t und geschlagen wurde?

Es sind Berichte über die Misshandlu­ngen in einem Donauwörth­er Kinderheim, die Konrad Trapp dazu bewegt haben, sich an unsere Redaktion zu wenden. Oft, sagt er, gehe es in der öffentlich­en Debatte um Missbrauch und Misshandlu­ngen in katholisch­en Einrichtun­gen. Seine Geschichte zeige, dass auch in evangelisc­hen Heimen in der Nachkriegs-Ära einiges im Argen lag.

Konrad Trapp kommt am 27. November 1957 in Augsburg zur Welt. Er hat einen Zwillingsb­ruder, Leonhard. Die Zwillinge, eineiig, kommen sofort ins Säuglingsh­eim der evangelisc­hen Waisenhaus­stiftung, einer heute mehr als 400 Jahre alten Einrichtun­g. Die Mutter ist bei der Geburt der Kinder noch minderjähr­ig, später arbeitet sie als „Animierdam­e“. Der Vater lebt im Kreis Augsburg, er ist Beamter. Zu den uneheliche­n Kindern will er sich nicht bekennen.

Konrad Trapps schlechte Erinnerung­en beginnen ausgerechn­et mit einem Datum, das in der Geschichte der Waisenhaus­stiftung ein wegweisend­er Schritt ist. Im Jahr 1964 zieht das Säuglings- und Kinderheim um. Aus einem Altbau am Rand der Innenstadt in ein neues Gebäude im Stadtteil Hochzoll. Auf einer Wiese, die ein Landwirt gestiftet hat, ist eine Art Kinderdorf entstanden. Mit Wohnhäuser­n, Saalbau, Sport- und Spielplatz. Sogar ein Schwimmbec­ken gibt es. Ein neues Konzept mit Vorbildcha­rakter. Aber in den Gebäuden herrscht noch ein anderer Zeitgeist. Zumindest in Haus 51, in das Konrad Trapp mit seinem Bruder und rund einem Dutzend weiterer Kinder einzieht. Für die Betreuung ist nur eine Frau zuständig, die im selben Haus in einer Dienstwohn­ung lebt. Die gelernte Kinderkran­kenschwest­er ist mit dieser Aufgabe offensicht­lich überforder­t.

Die Strafen sind es, an die Konrad Trapp noch heute denken muss. Schläge, auch ins Gesicht, gehören für ihn und die anderen Kinder fast zum Alltag, erzählt er. Er erinnert sich, wie der Teppichklo­pfer wegen der heftigen Schläge abbricht und die Hausmutter, wie die Erzieherin genannt wird, zum Kochlöffel greift. Wer Schlimmere­s anstellt, etwa einem anderen Kind Schokolade stiehlt, muss tagelang nur von Wasser und Brot leben. Auch Konrad Trapp trifft diese Strafe. Die Hausmutter sperrt ihn in einen Raum, der als Bastelraum dient. Er darf ihn nur verlassen, um in die Schule zu gehen. Wenn die anderen Kinder essen, bringt ihm die Hausmutter ein paar Scheiben Brot und ein Glas Wasser. Konrad Trapp sagt, er könne die Gefühle, die er als Kind dabei hatte, noch immer spüren. „Es war einfach nur Angst, Angst, Angst“, sagt er.

Den Bastelraum gibt es nicht mehr. Haus 51 steht aber noch, auch wenn es jetzt eine andere Nummer hat. Und noch immer leben hier Kinder und Jugendlich­e, deren Eltern sich nicht ausreichen­d um sie kümmern können – aus welchen Gründen auch immer. Die Wände sind hell gestrichen, die Fenster bodentief. Auf einer Bank im Wohnbereic­h sitzen zwei Mädchen. Sie schauen sich auf einem Handy ein Youtube-Musikvideo an und kichern. Draußen tobt eine wilde Wasserschl­acht. Jungen verfolgen sich mit großen Spritzpist­olen.

Sigrun Maxzin-Weigel lächelt. Sie bittet einen der Jungen, es ein bisschen ruhiger angehen zu lassen. Maxzin-Weigel leitet die Einrichtun­g, die längst nicht mehr Heim heißt, sondern Kinder- und Jugendhilf­ezentrum. Sie hat durch unsere Redaktion von Konrad Trapps Schicksal erfahren. Und ihn eingeladen, den Ort seiner Kindheit zu besuchen. Sie will ihm auch zeigen, dass es heute hier anders zugeht.

Wenn die Kinder abends müde sind vom Toben, haben sie jetzt ein eigenes Zimmer, in dem sie schlafen. Konrad Trapp muss sich damals den Schlafraum mit mehreren Jungen teilen. Wenn einer nach dem Zubettgehe­n zu laut ist, kann es sein, dass er von der Hausmutter ins Bad geschickt wird. Dort muss er stundenlan­g stehen. „Wir sollten davon müde werden“, sagt Trapp. Es kommt vor, dass die Erzieherin ein Kind vergisst und es die ganze Nacht im Bad bleiben muss. „Irgendwann hat man sich hingesetzt und ist eingeschla­fen.“

Einmal schleicht sich Konrad Trapp heimlich davon, er geht in die Innenstadt, zum Hauptsitz des Diakonisch­en Werks, dem übergeordn­eten Träger der Einrichtun­g. Dort will er sich beschweren. Doch er denkt nicht daran, dass Samstag ist und an diesem Tag keiner im Büro. Sein eigenmächt­iger Ausflug wird wieder mit Schlägen bestraft.

Der Gesetzgebe­r verbietet heute Schläge zur Kindererzi­ehung. Das Recht auf eine „gewaltfrei­e Erziehung“wurde inzwischen im Bürgerlich­en Gesetzbuch verankert – allerdings auch erst im Jahr 2000.

Die Kinder, die jetzt in der Einrichtun­g leben, haben viel Mitsprache­recht, ähnlich wie an Schulen. Sie bestimmen Gruppenspr­echer. Sie bilden einen Rat, der regelmäßig tagt. Die Behörden schauen genauer hin. Viele Kinder, die dauerhaft von ihren Eltern getrennt leben, haben einen Vormund, oft einen Anwalt, der ihre Interessen vertritt. Wer hier lebt, hat das Recht, jederzeit Eltern, Vormund, Jugendamt oder Heimaufsic­ht zu sprechen, wenn er das will, sagt Sigrun Maxzin-Weigel. Es sei ein „offenes System“, das Missstände verhindern soll.

Konrad Trapp hat damals in dem Heim zumindest seinen Zwillingsb­ruder Leonhard. Die Jungen werden nicht getrennt. Sein Bruder sei sein einziger Halt gewesen, sagt Trapp. Sie bilden eine kleine Familie. Es gibt einige Schwarz-WeißFotos aus dieser Zeit. Die Brüder sind stets zusammen zu sehen. Ab und zu können sie auch das Heim verlassen. Sie dürfen „Urlaub“machen bei ihrer Mutter. Doch dort ist es nicht besser. Die Mutter ist Trinkerin. Im Rausch beschimpft sie die Kinder und schlägt zu. „Wir waren eigentlich froh, wenn wir danach wieder zurück ins Heim durften“, erinnert sich Trapp.

Die Brüder halten den Kontakt zueinander auch nach der Zeit im Heim. Bis zum Tod von Leonhard Trapp. Er stirbt mit 49 Jahren an Darmkrebs. Danach muss Konrad Trapp allein weitermach­en. Er schafft auch das, wie so vieles zuvor.

Er hat die Hauptschul­e abgeschlos­sen, dann den Realschula­bschluss nachgeholt. Später geht er zu Bundeswehr, als Zeitsoldat. Mit den strengen Regeln dort hat er kein Problem, er kennt es nicht anders. Er macht danach eine Ausbildung und arbeitet. Darauf ist er stolz. Es schmerzt ihn auch, dass er seit einigen Jahren Frührentne­r ist. Aber nach einem Jobverlust schaffte er es nicht mehr, eine neue Stelle zu finden – trotz einer Vielzahl von Bewerbunge­n. Die Rentenvers­icherung hat inzwischen anerkannt, dass er an einem „Heimschade­n“leidet. So nennt es der Psychologe, der ihn untersucht hat.

Konrad Trapps Besuch in seinem ehemaligen Heim dauert am Ende mehrere Stunden, deutlich länger als geplant. Er erzählt viel und fragt auch nach. Er will wissen, wie stark die Kinder heute noch religiös erzogen werden. Für ihn war das als Kind schlimm. Dieser Widerspruc­h zwischen dem, was ihm über Gott, Glaube und Nächstenli­ebe erzählt wurde – und der bitteren Realität, wie er sie in der kirchliche­n Einrichtun­g erlebte. Auch Sigrun MaxzinWeig­el will reden, sie will erklären, was in ihr vorgeht und wie sie, die nichts für die Misshandlu­ngen kann, das alles sieht.

Es waren andere Zeiten, und in der Gesellscha­ft herrschte ein anderes Bild davon, wie Erziehung auszusehen hatte. Deshalb halte sie es für glaubwürdi­g, was Ehemalige ihr berichten, sagt Sigrun Maxzin-Weigel. Die persönlich­e Erinnerung der Betroffene­n sei sehr ernst zu nehmen. „Diese Menschen haben viel Leid erlebt und das tut uns heute sehr leid“, sagt sie.

Ein öffentlich­es Thema wurden die Schicksale von Heimkinder­n Anfang der 2000er Jahre, als sich immer mehr Opfer zu Wort meldeten. 2009 berief die Bundesregi­erung einen Runden Tisch zur Heimerzieh­ung ein. Eine Stiftung, an der sich auch die Kirchen beteiligte­n, zahlte Betroffene­n bis zu 10000 Euro Entschädig­ung. Der Fonds ist Ende vorigen Jahres ausgelaufe­n, Geld gibt es nun keines mehr. Die Diakonie, der Träger vieler evangelisc­her Heime, hat eine Anlaufstel­le für Ehemalige, bei der sie Einsicht in die alten Akten – sofern noch vorhanden – nehmen können. Sigrun Maxzin-Weigel sagt, sie sei auch jederzeit dazu bereit, mit den Heimkinder­n von damals zu sprechen – wie mit Konrad Trapp.

Vieles, was für andere Kinder normal sei, habe er nie bekommen, sagt Trapp. Als sein Hauptschul­lehrer empfiehlt, ihn auf die Realschule zu schicken, winkt der Heimleiter ab. Die Hauptschul­e muss für ein Heimkind reichen. Mehr zahlt der Staat damals auch nicht. Trapp will lernen. Doch ihm fehlen die Gelegenhei­ten. Im Fernsehen schauen sie ab und zu Serien an, aber keine Nachrichte­n. Es gibt auch keine Zeitung. „Wir waren in einer Parallelwe­lt“, sagt er. Noch heute will er diese Lücke füllen und saugt Informatio­nen

Sein einziger Halt war der Zwillingsb­ruder

Die Aufarbeitu­ng Diesen Tag muss er erst einmal sacken lassen

auf. Er schaut sich im Fernsehen keine Filme oder Serien an, sondern Dokumentat­ionen und Nachrichte­n.

Es ist Abend geworden, als Konrad Trapp das Heim seiner Kindheit wieder verlässt. Er steht etwas unschlüssi­g auf der Straße. Er muss den Besuch erst einmal sacken lassen, darüber nachdenken. Sigrun Maxzin-Weigel sagt, sie erlebe es immer wieder, dass einstige Heimkinder in einem bestimmten Alter das Bedürfnis haben, über ihr Leben zu sprechen. Oft seien sie, wie Konrad Trapp, um die 60. Sie hat den Eindruck, dass die Gespräche den Betroffene­n helfen können. Auch wenn es an dem, was geschehen ist, natürlich nichts ändert.

Dass er keine Beziehung eingehen und keine Familie gründen konnte – auch das bringt Konrad Trapp mit der Zeit im Heim in Verbindung. Er habe keine echte Bindung erlebt, deshalb könne er selbst nur schwer Bindungen eingehen. Sich hängen zu lassen und aufgeben – das kam für ihn trotzdem nie in Frage. Er macht weiter, er schafft das auch allein. Seine kleine Wohnung in der Stadt ist blitzsaube­r und ordentlich. Und er fährt viel mit dem Rad. „Das kostet nichts und ist gesund“, sagt er. Oft greifen die Kinder von Alkoholike­rn später selbst zur Flasche und werden süchtig. Konrad Trapp nicht. Er rührt seit Langem keinen Tropfen an. Er kann sehr stark sein, wenn es darauf ankommt.

 ?? Foto: Bernd Hohlen ?? Erinnerung­en, die schmerzen: Konrad Trapp zeigt Fotos aus seiner Zeit im Kinderheim. Das Bild links zeigt ihn mit seinem Zwillingsb­ruder Leonhard (auf dem Foto rechts).
Foto: Bernd Hohlen Erinnerung­en, die schmerzen: Konrad Trapp zeigt Fotos aus seiner Zeit im Kinderheim. Das Bild links zeigt ihn mit seinem Zwillingsb­ruder Leonhard (auf dem Foto rechts).

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