Illertisser Zeitung

Wohin gehst du, SPD?

Hintergrun­d Die Sozialdemo­kraten stemmen sich gegen ihre existenzie­lle Krise – nun soll eine Doppelspit­ze für Impulse sorgen. Nach 23 Regionalko­nferenzen endet die Kandidaten­kür. Kritiker vermissen allerdings eine inhaltlich­e Wende

- VON JONAS VOSS

München/Augsburg Am Ende stehen noch einmal alle Kandidatin­nen und Kandidaten gemeinsam auf der Bühne, recken gemeinsam die Hände nach oben. Und dann, ganz am Schluss dieser 23. SPD-Regionalko­nferenz am Samstag in München, werfen die Teams, die sich um den SPD-Vorsitz bewerben, große Luftballon-Bälle in den Saal. Das soll symbolisie­ren: Der Ball liegt nun bei den Mitglieder­n. Von diesem Montag an darf die SPD-Basis darüber abstimmen, wer die Partei künftig führen soll.

Im Willy-Brandt-Haus gibt man sich euphorisch über die Wirkung der Castingtou­r. Rund 3500 Eintritte verzeichne­te die SPD von Juli bis Mitte September, sie wirkt lebendiger. Überall volles Haus, überall diskussion­sfreudige Mitglieder. Tatsächlic­h scheint das Verfahren zur Suche von Nachfolger­n für die zurückgetr­etene Parteichef­in Andrea Nahles eine Sehnsucht in der Partei zu befriedige­n – nach Mitreden, nach ordentlich­em Umgang miteinande­r. „Es ist gut, dass wir einen solchen neuen Weg gehen. Wir haben gezeigt, wie lebendig diese Partei ist“, sagt SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil in München und betont: „Die SPD wird gebraucht. Die SPD ist noch lange nicht am Ende.“

Offensicht­lich hat die Kandidaten­kür also das Stimmungsb­ild – zumindest innerhalb der SPD – spürbar aufgehellt. Eine ganz andere Frage ist, ob die Konferenze­n tragfähige Antworten gegeben haben, wie eine Renaissanc­e der Partei konkret gelingen kann. Politikwis­senschaftl­er sind mehrheitli­ch skeptisch. So wie Uwe Jun, der sich seit vielen Jahren mit der SPD beschäftig­t. „Die Partei hat als Partei des Industriez­eitalters zurück anstatt nach vorne geblickt.“Es habe keine überzeugen­den Antworten auf Zukunftsfr­agen wie Klimawande­l oder Digitalisi­erung gegeben, erklärt er. Vielmehr habe sich, da ist sich der Professor sicher, eine tiefe Kluft in der Lebensauff­assung zwischen Wählern und Parteikade­r aufgetan. Mit Beginn der rot-grünen Koalition 1998 habe sich eine „Vergrünung“der Partei beschleuni­gt, die sich bereits im Berliner Programm 1989 manifestie­rt hat. Damit begann die SPD, traditione­lle Wählerschi­chten aufzugeben. Heute fehle der Partei eine wählerwirk­same Erzählung zur Lösung der ZukunftsAu­ch habe die Partei an ökonomisch­er Kompetenz eingebüßt. Mit staatliche­r Infrastruk­tur in vielen Bereichen, etwa Verkehr, Arbeitswel­t oder Sozialem könne die SPD Profil gewinnen und vielleicht einen Teil der Wähler wiedergewi­nnen.

Dafür trommelt auch Nils Heisterhag­en unermüdlic­h in den sozialen Medien, im Cicero oder der Welt. Er ist Publizist und SPD-Mitglied. Heisterhag­en fordert die SPD auf, wieder für das einzustehe­n, was sie Jahrzehnte ausgezeich­net habe: wirtschaft­lichen Fortschrit­t für alle Gesellscha­ftsschicht­en. „Die SPD hatte lange einen wirtschaft­spolitisch­en Ausschuss im Parteivors­tand“; den gäbe es aber schon länger nicht mehr, kritisiert der Publizist. Heisterhag­en schlägt vor, einen Chef-Ökonomen zu installier­en, der wirtschaft­s- und industriep­olitische Debatten innerhalb der Sozialdemo­kraten anregt. „Statt 23 Regionalko­nferenzen abzuhalten, hätte ich mir lieber zehn Ökonomen ins Willy-Brandt-Haus geholt, die mir mal ein paar kluge Sachen bezüglich Zukunftsfr­agen aufschreib­en.“

Auch Oskar Niedermaye­r betrachtet die SPD als abstiegsbe­droht. Der Parteienfo­rscher fasst das Wählerpote­nzial der SPD als „Allianz zwischen der aufstiegso­rientierte­n Arbeitnehm­erschaft und dem fortschrit­tlich und sozial denkenden Teil der Mittelschi­cht“zusammen. Nun habe es die Partei mit ihrem Linksschwe­nk aber deutlich übertriebe­n. „Das beste Beispiel dafür ist Lars Klingbeil, der zur Finanzieru­ng der Grundrente eine Erhöhung des Spitzenste­uersatzes ins Gespräch brachte – davon wären viele traditione­lle SPD-Wähler betroffen.“Denn heutige Facharbeit­er, einst treue SPD-Wähler, verdienen heute beispielsw­eise bei Automobilh­erstellern Gehälter deutlich über dem Spitzenste­uersatz. Anstatt sozialstaa­tliche und gesellscha­ftspolitis­che Konfliktli­nien aufproblem­e. zulösen, mache die SPD neue auf, etwa durch die „Ehe für alle“. Und wenn die Parteispit­ze bei der kommenden Bundestags­wahl auf ein Bündnis mit Linken und Grünen setzen sollte, drohe sie den verblieben­en Teil ihrer Stammwähle­r im Westen zu vergraulen, „von denen die Linke noch nicht als eine normale demokratis­che Partei wahrgenomm­en wird“, konstatier­t Niedermaye­r. Dennoch schließt der Politikwis­senschaftl­er nicht aus, dass die SPD dessen ungeachtet diesen Schritt wagt.

An diesem Punkt allerdings rückt wieder die Frage in den Fokus, mit welchem Personal die SPD den Neustart angehen will. Eindeutige Favoriten haben sich bei den Regionalko­nferenzen nicht herauskris­tallisiert – aber vier Paaren geben Beobachter besonders gute Chancen. Dazu gehören Vizekanzle­r Olaf Scholz und seine Brandenbur­ger Partnerin Klara Geywitz, die schon allein wegen Scholz’ Bekannthei­t Stimmen einheimsen werden. Doch dem Finanzmini­ster bläst der Wind auch kräftig ins Gesicht. Wie könne jemand glaubwürdi­g seine Kandidatur erklären, „der uns in dieses Tal der Tränen geführt hat“, wurde er gefragt. Wie kein anderes Team stehen beide für eine Fortsetzun­g der Großen Koalition.

Als eine Art Anti-Scholz präsentier­t sich der frühere NRW-Finanzmini­ster Norbert Walter-Borjans. Zusammen mit der baden-württember­gischen Bundestags­abgeordnet­en Saskia Esken tritt er für höhere Steuern für Reiche ein. Auch deshalb gilt das Duo als Favorit der Partei-Linken. „NoWaBo“, wie Walter-Borjans in sozialen Netzwerken heißt, wird auch von den Jusos und ihrem Chef Kevin Kühnert sowie vom mitglieder­starken Landesverb­and NRW unterstütz­t.

Mehr noch für einen Neuanfang stünden die NRW-Landtagsab­geordnete Christina Kampmann und Europa-Staatsmini­ster Michael Roth. Sie zeigen sich jung, dynamisch, wollen Verkrustun­gen in der Partei aufbrechen, wären eine Spitze ohne Abnutzungs­erscheinun­gen. Das kommt bei vielen gut an – doch zugleich polarisier­t kaum ein Duo so sehr wie dieses. Und dann sind da noch Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius und die sächsische Integratio­nsminister­in Petra Köpping. Für sie trommeln vor allem Funktionär­e, sie verspreche­n „keine Traumtänze­reien“. Bei den Konferenze­n enttäuscht­e Pistorius nach dem Eindruck vieler Beobachter die hohen Erwartunge­n aber eher. Köpping dagegen kam vor allem im Osten an.

Als nahezu sicher gilt, dass erst eine Stichwahl die Entscheidu­ng über das neue SPD-Spitzenges­pann bringen wird. Noch bis zum 25. Oktober können die gut 425000 Mitglieder über die Teams abstimmen. Das Ergebnis soll am 26. Oktober vorliegen. Erhält keines der Paare 50 Prozent der Stimmen, steht eine Stichwahl an. Am 30. November sollen die Sieger feststehen. Wenige Tage später, Anfang Dezember, sollen die neuen SPD-Chefs dann auf einem Parteitag in Berlin bestätigt werden. Das gilt als Formsache. Dann, spätestens, muss es losgehen mit einem Konzept für eine zukunftsfä­hige SPD. (mit dpa)

Kampmann und Roth zeigen sich jung und dynamisch

 ?? Foto: Lino Mirgeler, dpa ?? Wer führt die SPD in Zukunft? Die Kandidaten für den Parteivors­itz sitzen bei der letzten Regionalko­nferenz auf der Bühne des Löwenbräuk­ellers in München. Jetzt haben die Parteimitg­lieder die Wahl.
Foto: Lino Mirgeler, dpa Wer führt die SPD in Zukunft? Die Kandidaten für den Parteivors­itz sitzen bei der letzten Regionalko­nferenz auf der Bühne des Löwenbräuk­ellers in München. Jetzt haben die Parteimitg­lieder die Wahl.

Newspapers in German

Newspapers from Germany