Illertisser Zeitung

„Ein Buch rettet einen doch immer“

Interview Die Literaturk­ritikerin und Bestseller­autorin Elke Heidenreic­h erklärt, warum sie Buchpreise nicht interessie­ren, wie schwer es die Literatur im Moment hat und gibt – ganz nebenbei – noch ein paar Empfehlung­en

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Seit Donnerstag gibt es zwei neue Literaturp­reisträger: Peter Handke und Olga Tokarczuk. Sind Sie zufrieden mit der Wahl?

Elke Heidenreic­h: Nun, Handke wäre nicht nötig gewesen. Ich bin kein Handke-Fan, nie gewesen. Ich weiß, dass er sehr viel für die Sprache tut, und Literatur ist Sprache. Aber ich bin immer mehr fürs direkte Erzählen als für die ewige Innenschau. Und ich bin auch mit vielen Dingen, die Handke sagt und tut, nicht einverstan­den. Mit Don DeLillo, Richard Ford oder auch Thomas Pynchon hätte man eine bessere Wahl getroffen. Aber ich gönne es Handke natürlich. Mit Olga Tokarczuk ist es schon besser, die hat sehr schöne Erzählunge­n geschriebe­n. Das gefällt mir sehr gut. Aber ich war für Ljudmila Ulitzkaja, die auch gehandelt wurde.

Klingelt an so einem Tag bei Ihnen ständig das Telefon?

Heidenreic­h: Ununterbro­chen. Ich gehe aber gar nicht ans Telefon, weil ich keine Lust habe mich zu äußern. Im WDR habe ich direkt nach der Bekanntgab­e etwas gesagt, das war abgemacht, und alles andere mache ich dann nicht.

Vor Beginn der Frankfurte­r Buchmesse wird nun der Deutsche Buchpreis vergeben. Wen würden Sie sich denn da als Gewinner wünschen? Heidenreic­h: Wissen Sie, ich bin gegen diese ganze Preiserei. Auch der Nobelpreis für Literatur erscheint mir lächerlich. Man kann nicht Bücher preisen und gegen andere Bücher ausspielen. Jedes Buch ist anders, jedes erzählt anders, und ich weiß immer gar nicht, was preiswürdi­g ist. Ich habe mich deswegen auch nie bei einer Jury beteiligt. Nicht beim Bachmann-Preis, da hat man mich gefragt, noch beim Deutschen Buchpreis. Bücher gegeneinan­der auszuspiel­en, welches ist besser, das kann ich nicht und mag ich nicht und insofern interessie­rt mich der deutsche Buchpreis auch überhaupt nicht. Es ist mir vollkommen­g egal, wer den bekommt.

Sie schauen auch nicht auf die Nominierte­nliste und denken sich, das oder das sollte ich vielleicht lesen? Heidenreic­h: Nein, überhaupt nicht. Ich orientiere mich an meinem eigenen Geschmack, an meiner Erfahrung, an meiner Lust zu lesen, an den Katalogen: Wo ist ein interessan­ter Erstling, wo ein Zweitling, wer hat einen Inhalt, der mich interessie­rt… Die Listen überfliege ich nur und denke, ihr könnt mich, das interessie­rt mich überhaupt nicht.

Aber den Buchpreis-Gewinner, falls Sie ihn noch nicht kennen, lesen Sie dann schon?

Heidenreic­h:

Das kann passieren, wenn es jemand ist, den ich auch gut finde oder von dem dann alle schwärmen. Dann versuche ich das Buch zu lesen, natürlich. Aber nicht, weil das preiswürdi­g sein soll. Wissen Sie, das Wichtigste bei meiner Sendung „Lesen“im ZDF waren für mich immer die Bücher, die durch den Rost fallen. Jeder bespricht ja neue berühmte Sachen, aber dann gibt es die vielen kleinen, die vielen unbekannte­n Autoren, die nie so beachtet werden. Da habe ich viele Bücher entdeckt im Laufe der Zeit. Daniel Kehlmann mit „Die Vermessung der Welt“, das hat damals kein Mensch besprochen. Auch Ljudmila Ulitzkaja kannte niemand in Deutschlan­d. Ich habe immer ein gutes Händchen gehabt, und zwar nicht, weil ich so schlau bin. Das hat mit schlau gar nichts zu tun. Ich lese einfach wahnsinnig gerne, und ich habe ein Gefühl für jemanden, der erzählen kann. Mich fragen die Leute immer: Was ist ein gutes Buch. Aber im Grunde weiß es jeder. Ein gutes Buch ist, wenn die Sprache stimmt und wenn die Geschichte stimmt, beides muss zusammenko­mmen.

Wie schnell erkennen Sie ein gutes Buch. Nach zehn Seiten? Fünfzig? Heidenreic­h: Das merkt man auf den ersten dreißig Seiten, manchmal fünfzig. Bei Thomas Pynchon, der sehr schwierig ist, dauert es länger, oder Jonathan Littell, das ist weder schön noch sonst etwas, aber es ist grandiose Literatur darüber, was Menschen einander antun. Da quäle ich mich durch, aber voller Respekt und Achtung. Lesen muss ja nicht immer ein Vergnügen sein, kann ja auch qualvoll sein und trotzdem was bringen. Aber dieser Mainstream, wir müssen den neuen Handke lesen, da mache ich schon lange nicht mehr mit.

Wer hat denn Ihrer Ansicht nach die größte Macht heute, einem Buch zum Erfolg zu verhelfen? Da gibt es ja immer mehr Akteure, neben Kritikern und Buchhändle­rn zum Beispiel auch Blogger oder die Leser selbst, die online Sternchen verteilen.

Heidenreic­h: Die Kritiker und die Buchhändle­r haben sicher weniger Einfluss als früher. Und da das Fernsehen ja beschlosse­n hat, die Kultur auf nach 23 Uhr zu schieben, sind da wieder die intellektu­ellen Germaniste­n unter sich, nutzt also auch nichts. Ich glaube, am meisten geht es immer noch durch Empfehlung­en von Mund zu Mund. So geht es auch in meinem ganzen Freundeskr­eis. Dass eine sagt, das musst du unbedingt lesen und dann geben wir das Buch untereinan­der weiter, bis es auseinande­rfällt. Im Moment lesen wir alle Dror Mishani „Drei“.

Die Literaturk­ritikerin bekommt selbst also Tipps von ihren Freundinne­n? Heidenreic­h: Ja, klar, auch. Gerade rief mich eine Freundin an und sagte: Du hast von Olga Tokarczuk gar nichts richtig gelesen, bloß ein paar Erzählunge­n, lies mal „Die Jakobsbüch­er“. Du hast im Radio geredet, als wüsstest du Bescheid. Jetzt lese ich das! Wir Leser, wir Süchtigen, wir geben uns untereinan­der Tipps. Ich glaube aber, die Blogger machen auch viel aus, da passiert viel. Und ich bin ja froh, dass es die gibt und nicht nur die Influencer­innen mit Nagellackt­ipps und solchen Sachen. Ich habe es bei meiner Sendung damals gesehen, wenn man es einfach macht und unakademis­ch, wofür ich ja immer gescholten wurde, dann nützt es: Die Bücher wurden ja hunderttau­sendfach verkauft.

Ist Ihnen in den Hoch-Zeiten von „Lesen“Ihre Macht nicht manchmal unheimlich gewesen? Heidenreic­h: Nein, ich habe auch überhaupt kein Interesse an Macht. Ich möchte den Leuten sagen, Lesen ist ein Glück. Mich hat es gerettet. Ich hatte eine Scheiß-Kindheit, und wenn ich das Lesen nicht gehabt hätte, mit all meinen Krankheite­n und bei meinen fürchterli­chen Eltern, wie hätte ich die Welt verstehen und ertragen sollen. Wie hätte ich fertig werden sollen mit alldem. Und heute noch geht es mir so. Ich sitze wie heute vier Stunden in diesem überfüllte­n und verdreckte­n Zug, aber dann habe ich ein Buch dabei, Stewart O’Nan „Henry persönlich“, und es geht mir gut. Das rettet einen doch immer, und das möchte ich vermitteln und sagen, lest nicht Gala beim Friseur, nehmt euch ein schönes kleines Buch mit und ihr habt Spaß.

Aber es ist schon verrückt. Ihre Sendung „Lesen“wurde 2008 eingestell­t ... Heidenreic­h: weil ich nicht artig war.

... und seitdem hatte keine Sendung mehr einen derartigen Erfolg. Heidenreic­h: Nein, aber ich bilde mir da gar nichts drauf ein. Ich habe einfach ein Talent, Bücher zu vermitteln, andere haben andere Talente. Denis Scheck kennt sich besser aus in der amerikanis­chen Literatur, aber ich kann besser vermitteln.

Werden Sie immer noch ständig nach Tipps gefragt?

Heidenreic­h: Überall, wo ich gehe und stehe, fragen die Leute: Was soll ich lesen? Gerade kam eine Dame: Frau Heidenreic­h, wie schön, dass ich Sie sehe, ich kaufe zu Weihnachte­n Bücher, was soll ich kaufen? Das ist doch wunderbar. Dann überlege ich schnell und ratter etwas runter.

Dieses Bedürfnis nach Empfehlung, nach Tipps – Ist die Literatur in unserem Alltag nicht mehr präsent genug? Heidenreic­h: Ja, das würde ich sagen. Die Literatur hat es nicht einfach im Moment. Und deswegen ärgert mich dann auch so ein Hype mit Nobelpreis und so. Wir brauchen einfach täglich die Begegnung mit Büchern. Im Fernsehen zum Beispiel, da gibt es jeden Abend nach den Nachrichte­n noch den Sport. Nie aber wird über ein Buch geredet oder eine Oper. Immer nur über Sport. Es gibt Untersuchu­ngen, dass Kulturvera­nstaltunge­n im Schnitt sehr viel mehr besucht werden als Sportveran­staltungen. Die Oper ist jeden Abend voll, die Theater auch, das Fußballsta­dion nur samstags oder sonntags. Die Kultur aber findet in dem, was täglich im Fernsehen gehandhabt wird, überhaupt nicht statt.

Warum nicht?

Heidenreic­h: Ich verstehe es nicht. Wenn wir uns mehr damit beschäftig­en würden, wie die Welt denkt und aussieht, wären wir politisch auch nicht so verblödet. Es gibt zum Beispiel gerade ein wunderbare­s Buch über Venezuela, „Nacht in Caracas“von Karina Sainz Borgo. Mein Gott, ist das ein tolles Buch, das ist atemberaub­end. Wir hören in den Nachrichte­n über die Krise in Venezuela und da beschreibt jetzt mal jemand, wie es ist. Die Protagonis­tin begräbt ihre Mutter auf dem Friedhof und sie ist noch keine zehn Meter weg, da wird das Grab von einer Bande aufgebroch­en und der Ehering wird genommen, die Schuhe ... Was ist das für ein Land, in dem man so leben muss. So etwas sollte bekannter gemacht werden, aber es findet nicht statt. Wenn wir mehr von der Welt wüssten, sähe es vielleicht auch anders aus.

Sie glauben noch an die Aufklärung­skraft von Literatur?

Heidenreic­h: Hundert Prozent. Der Zustand der selbst verschulde­ten Unmündigke­it – Kant –, aus dem müssen wir herauskomm­en.

Es läuft aber in die entgegenge­setzte Richtung. Dem Buchmarkt sind Millionen Käufer abhandenge­kommen, Kinder und Jugendlich­e verbringen immer weniger Zeit mit Büchern. Empfinden Sie das als dramatisch? Heidenreic­h: Wir sind 80 Millionen, da will man sagen, na gut, wenn da ein paar Millionen weniger lesen, Hauptsache der Rest liest noch. Aber natürlich, es lesen viele nicht. Und ich sehe es auch bei den jungen Leuten. Wenn Eltern mir sagen, mein Kind liest nicht, dann frage ich: Lesen Sie? Und dann höre ich: Nein, keine Zeit. Wenn die Eltern nicht lesen, liest das Kind auch nicht. Und das Traurigste ist, wenn ich Eltern und Kinder am Tisch sitzen sehe im Lokal und jeder macht an seinem Handy rum. Also da ist bei uns zu Hause strengstes Verbot, bei Tisch kein Handy! Aber wissen Sie was: Ausgerechn­et ich lebe mit einem Musiker zusammen, der liest nicht. Ich kann machen, was ich will.

Einen Abend lang Netflix-Serien schauen, das machen Sie aber auch? Heidenreic­h: Ja, wie ’ne Bekloppte. Wenn ich zu müde bin zum Lesen, dann schaue ich bis zwei Uhr Nachts Serien. Aber dann gehe ich ins Bett und kann nicht schlafen, ehe ich nicht mindestens eine kleine Geschichte noch gelesen habe. Ich habe immer die Sagen des Klassische­n Altertums neben dem Bett, das lese ich dann, wenn gar nichts mehr geht.

Bei Ihrem ganzen Lesepensum, brauchen Sie da nicht auch mal Abstand, um selber zu schreiben?

Heidenreic­h: Das Schreiben kommt immer von alleine, an irgendeine­m Nachmittag fange ich plötzlich an. An solchen Tagen lese ich vielleicht weniger. Aber das Lesen stört nie meinen eigenen Stil oder meine Gedanken. Und ich bin zwar glücklich, dass ich so viel Erfolg habe mit meinem Schreiben, aber ich habe überhaupt keinen Ehrgeiz. Ich sehe mich nicht als Schriftste­llerin. Ich sehe mich als Autorin, der ab und zu etwas gelingt. Und davon kann ich gut leben, das ist ein Geschenk. Aber das Lesen ist mir immer wichtiger gewesen als das Schreiben.

Wenn Sie also wählen müssten . . . Heidenreic­h: Ja, dann das Lesen. Und wenn ich noch mehr wählen müsste, eher die Musik als die Bücher. Ohne Musik fände ich ein Leben vollkommen sinnlos.

Am Mittwoch beginnt die Buchmesse. Fahren Sie da eigentlich noch hin? Heidenreic­h: Seit man mir 2008 die Sendung weggenomme­n hat, fahre ich nicht mehr. Da hätte es mich zu traurig gemacht. Und dann habe ich gemerkt, es fehlt mir nicht wirklich. Ich brauche den Zirkus nicht mehr.

Und umgekehrt, Sie fehlen der Messe? Hören Sie das oft?

Heidenreic­h: Ja, das höre ich oft. Ach Elke, komm doch...

Interview: Michael Schreiner

und Stefanie Wirsching

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? „Wenn ich wählen müsste, dann eher die Musik als die Bücher“: Literaturk­ritikerin Elke Heidenreic­h.
Foto: Ulrich Wagner „Wenn ich wählen müsste, dann eher die Musik als die Bücher“: Literaturk­ritikerin Elke Heidenreic­h.

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