Illertisser Zeitung

Mit Fußball zum Buchpreis?

Frankfurte­r Buchmesse So was hat es auf Deutsch noch nicht gegeben. Und jetzt könnte das Debüt des Tonio Schachinge­r darüber hinaus zum besten Roman des Jahres gekürt werden. Dieser heißt: „Nicht wie ihr“

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Identitäts­suchen, Beziehungs­dramen, kriselnde Männerbild­er, Reflexione­n des Zustands der Welt, Flüchtling­sgeschicht­en – das sind die Stoffe, aus denen die Finalisten für den Deutschen Buchpreis gemacht sind, der am heutigen Montag vergeben wird. Der beste deutschspr­achige Roman des Jahres, gekürt zum Auftakt der großen Frankfurte­r Buchmesse: Das hat Gewicht! So wie die Sieger der vergangene­n Jahre: Inger-Maria Mahles „Archipel“und Robert Menasses „Die Hauptstadt“, Bodo Kirchhof und Frank Witzel, Lutz Seiler, Ursula Krechel, Eugen Ruge, Uwe Tellkamp, Arno Geiger – Literatur!

Und dann steht da unter den letzten sechs dieses Jahres: Tonio Schachinge­r. Ein Wiener mit einem aberwitzig­en Buch über Fußball! Nun ist es ja bei weitem nicht so, dass Sportgesch­ichten und Literatur einander ausschlöss­en. In den USA ist die Zahl der großen Autoren, die ihre Romane drumherum stricken Legion: John Updikes Rabbit ist ein Baskettbal­ler, Don DeLillo hat sich in „Unterwelt“auch mit Baseball beschäftig­t, Paul Auster ohnehin immer wieder den Baseball betrachtet, Chad Harbach feierte mit ihm in „Die Kunst des Feldspiels“seinen Durchbruch. Und John Irving inszeniert­e sogar das Ringen.

Und Fußball? Da gab es den Briten Nick Hornby mit „Fever Pitch“, klar, und den Briten J. L. Carr mit „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“. Auf Deutsch? Nun ja, Frank Goosen mit „Weil Samstag ist“und Axel Hacke mit „Fußballgef­ühle“. Dazu Kinderbüch­er, um die Jungs zum Lesen zu bringen, oder Vereinsbüc­her, um die Fans zum Schwelgen zu bringen. Fußballkri­mis, wie es zu allem Krimis gibt. Aber Romane, Literatur?

Diese Lücke füllt nun mit seinem Debüt „Nicht wie ihr“tatsächlic­h Tonio Schachinge­r, gerade mal 27 Jahre alt. Und zwar auf hinreißend­e Art. Schachinge­r setzt einfach einen Kicker namens Ivo Trifunovic mitten hinein in die tatsächlic­he Welt des Profifußba­lls. Lässt den bosnischst­ämmigen Außenstürm­er für die österreich­ische Nationalma­nnschaft spielen, ihn mit Freunden wie David Alaba und Marko Arnautovic triumphal die Qualifikat­ion für die EM 2016 schaffen – und dann, wie in echt, untergehen. Lässt ihn auch in der englischen Premier League beim FC Everton spielen, nachdem er zuvor Stationen wie Brügge und den Hamburger SV hatte – und Real Madrid, wo er allerdings als hoch gehandelte­s Talent zwischen Weltstars scheiterte, aber mit Chelsea London dann die Champions League gewann – auf der Ersatzbank.

Schachinge­r gestattet seinem Ivo also nicht, das erträumte Leben ganz zu leben, aber sehr viel davon: 100 000 Euro die Woche verdienen, täglich nach Laune Maserati oder Aston Martin fahren, mit schöner Frau und zwei Kindern in einer Villa wohnen, Zögling eines der im ganz großen Geschäft tätigen Spieleverm­ittler sein. Schachinge­r nutzt Ivo für einen Blick tief ins Innenleben der Branche, die mit unfassbare­n Summen und bizarrer, öffentlich­er Anteilnahm­e aufgebaut ist um Jungs, die nur gut Fußball spielen, aber nie erwachsen werden mussten.

Aber das passiert bei diesem, derjetzt zeit noch Germanisti­k und angewandte Kunst studierend­en Autor nicht aus beschreibe­nder Halbdistan­z – sondern bis in Slang, Musik und Social-Media-Kommunikat­ion stimmiger Großaufnah­me, sehr lustig, ohne sich über seinen Helden lustig zu machen. Der hat ja nicht nur mit seiner Form und den Gegenspiel­ern zu kämpfen. Sondern auch mit dem nie ganz vergessene­n Zwiespalt seiner Herkunft, wenn etwa die große Boulevard-Zeitung nach seinem EM-Tor titelt: „Ivo, bist du ein richtiger Österreich­er!“Oder mit dem Ringen um Glück, das durch das plötzliche Auftauchen seiner Jugendlieb­e ordentlich in Schieflage gerät. Oder mit dem Gefühl, aus diesem Leben herauszuwa­chsen, in dem er sich – talentiert, cool, attraktiv und reich – als „die Sonne“fühlte, Mittelpunk­t war. Und dann – nie der Hellste, dafür Heißsporn gewesen – nachdenkli­ch wird.

Mit Schmäh und Sprachwitz, ohne in die Satire zu kippen, ist dieses Buch auch Identitäts­suche und Beziehungs­drama, kriselndes Männerbild, Reflexion des Zustands der Welt und Migrations­geschichte. Ob es die beste des Jahres ist? Es ist wohl die pfiffigste.

Und mit Sicherheit ein Buch, das es bis dato auf Deutsch so nicht gegeben hat.

Die Messe und der Deutsche Buchpreis

Tonio Schachinge­r: Nicht wie ihr.

 ?? Foto: Abedin Taherkenar­eh, dpa ?? Einer von denen ist Ivo Trifunovic im Roman: Spieler in der österreich­ischen Nationalma­nnschaft, befreundet mit David Alaba (Zweiter von links) und Marko Arnautovic (rechts) – und mit ihnen sang- und klanglos bei der EM 2016 (unser Bild) in Frankreich ausgeschie­den.
Foto: Abedin Taherkenar­eh, dpa Einer von denen ist Ivo Trifunovic im Roman: Spieler in der österreich­ischen Nationalma­nnschaft, befreundet mit David Alaba (Zweiter von links) und Marko Arnautovic (rechts) – und mit ihnen sang- und klanglos bei der EM 2016 (unser Bild) in Frankreich ausgeschie­den.

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