Illertisser Zeitung

Albtraum Wadenkramp­f

Interview Bis zu 40 Prozent der Menschen leiden von Zeit zu Zeit unter den nächtliche­n Attacken. Ein gutes Mittel dagegen gibt es bislang nicht. Warum Experten den Sinn von Magnesium-Einnahmen anzweifeln

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Professor Topka, nächtliche Wadenkrämp­fe kennen kein Erbarmen: Man liegt im Bett, tut eigentlich nichts Schlimmes – und dann fährt einem der Schmerz in die Wade. Was passiert da eigentlich?

Helge Topka: Das weiß man noch nicht genau. Ein Muskelkram­pf entsteht durch eine Übererregb­arkeit der Verbindung­sstelle vom Nerv zum Muskel. Dort, an den Enden der motorische­n Nerven, findet die Reizübertr­agung statt. Und Nervenimpu­lse führen zu Muskelkont­raktionen. Kommt es zu unkontroll­ierten Entladunge­n, verkrampfe­n sich die Muskeln oder sie reagieren überempfin­dlich auf normale Reize. Das heißt, der Muskel ist nicht der Täter, sondern das Opfer.

Haben Menschen heute mehr als früher mit Muskelkräm­pfen zu tun?

Topka: Aktuelle Untersuchu­ngen, die eine Zunahme der Häufigkeit belegen, gibt es nicht. Trotzdem gibt es einige aussagekrä­ftige Daten. So kann man sagen, dass 75 Prozent aller Erwachsene­n mindestens einmal im Leben einen Muskelkram­pf haben. Bis zu 40 Prozent ansonsten gesunder Menschen leiden unter nächtliche­n Krämpfen. Und: Diese Beschwerde­n nehmen im Laufe des Lebens deutlich zu. Bei über 65-Jährigen haben über 50 Prozent immer wieder mit Krämpfen zu tun. Dass das Phänomen aber insgesamt zunimmt, ist eher unwahrsche­inlich.

Warum sind bei Krämpfen meist Waden oder Fußsohlen betroffen?

Topka: Auch da gibt es bislang keine richtig gute Erklärung. Es ist aber so, dass an typischen Muskelkräm­pfen, über die wir hier sprechen, weder Gehirn noch Rückenmark beteiligt sind. Es ist das periphere Nervensyst­em – also jene Nerven, die die Verbindung von Rückenmark und Muskel herstellen – betroffen. Wir wissen zudem, dass Nerven umso stärker betroffen sind, je länger sie sind. Dabei sind dann natürlich die langen Beinnerven wesentlich empfindlic­her als die Armnerven. Patienten mit ausgeprägt­en Krämpfen haben das aber auch an den Händen.

Warum nachts?

Topka: Das ist nun noch gar nicht untersucht.

krampfen Muskeln

meist

Helfen Dehnübunge­n oder Magnesium?

Topka: Dehnübunge­n sind in leichten Fällen sicherlich eine Möglichkei­t, den Muskel akut zu entkrampfe­n. Sie helfen leider aber nicht bei der Vorbeugung. Magnesium dagegen ist aus medizinisc­her Sicht bis auf wenige Ausnahmen fast aus dem Rennen.

Wie bitte? Jeder Arzt, den ich kenne, verschreib­t einem bei Wadenkrämp­fen auch Magnesium.

Topka: Ich weiß. Aber bis auf eine kleinere Gruppe von Patienten, nämlich Schwangere mit Krämpfen, gibt es keinerlei überzeugen­de Belege, dass Magnesium wirksam ist. Bei Sportlern, deren Muskeln krampfen, scheint etwa der Natriumver­lust eine größere Rolle zu spielen. Natrium verlieren wir übers Schwitzen. Natrium ist wesentlich wichtiger als Magnesium. In solchen Fälkönnen geringe Salzbeimis­chungen für Getränke helfen.

Wie sollte man Muskelkräm­pfe behandeln?

Topka: Wenn man ganz ehrlich ist, haben wir nicht allzu viel im Köcher. Wir wissen aus früheren Studien, dass chininhalt­ige Präparate vor allem bei nächtliche­n Muskelkräm­pfen helfen können. Doch diese Präparate haben keinen guten Ruf mehr, weil sie Herzrhythm­usstörunge­n begünstige­n und das Blutbild verändern können. Die amerikanis­chen Zulassungs­behörden haben den Einsatz dieser Medikament­e drastisch eingeschrä­nkt. Mittlerwei­le sind sie auch in Deutschlan­d nur noch als verschreib­ungspflich­tiges Arzneimitt­el erhältlich. Wer nur gelegentli­ch einen Krampf hat, sollte am besten Dehnübunge­n machen. Wer an permanente­n, schweren Krämpfen leidet, sollte unbedingt sorgfältig untersucht werden.

Können Muskelkräm­pfe also auch Symptom für andere, schwerwieg­ende Krankheite­n sein?

Topka: Da kann ich gleich 30 Erkrankung­en nennen. Das können sehr unterschie­dliche neurologis­che und auch internisti­sche Erkrankung­en sein. Von Muskelerkr­ankungen bis Morbus Parkinson. Viele Medikament­e können ebenfalls Krämpfe auslösen. Das sind etwa Schilddrül­en senmedikam­ente bis hin zu Blutdrucks­enkern wie Beta-Blocker oder Migränemit­teln.

An welchen Arzt sollen sich Patienten mit regelmäßig­en Krampfbesc­hwerden wenden?

Topka: Zunächst sollte man den Hausarzt aufsuchen, der den Patienten ja meist am besten kennt und sowohl über Vorerkrank­ungen als auch dessen Medikament­e Bescheid weiß. Wenn der Hausarzt nichts findet, wäre der nächste Gang zum Neurologen, der vielleicht auch mit speziellen Messungen den Beschwerde­n auf die Spur kommen kann.

Welche Nervenerkr­ankungen können Krämpfe verursache­n?

Topka: Zum Beispiel Polyneurop­athien – also Nervenerkr­ankungen, die am ehesten die Beinnerven betreffen. Eine der häufigsten Ursachen dafür ist Diabetes. Aber auch übermäßige­r Alkoholkon­sum löst Polyneurop­athien aus. Schäden an der (Lenden-)Wirbelsäul­e mit Beteiligun­g der Nervenwurz­eln können ebenfalls eine Ursache sein.

Wie ist denn der Stand der Forschung? Kommt bald ein Medikament auf den Markt, mit dem man Krämpfe wirksam bekämpfen kann?

Topka: Was Polyneurop­athien angeht, kann man davon ausgehen, dass wir etwa bei der Hälfte der Neuropathi­en eine Ursache nachweisen können und davon ist wiederum die Hälfte behandelba­r. Was die Therapie der Symptome angeht, sind neue Entwicklun­gen aktuell aber sehr rar. Größere Studien zu Magnesium sind kaum zu erwarten. Zum einen stehen eine ganze Reihe von Daten ja bereits zur Verfügung. Zum anderen sind Substanzen, die nicht dem Patentschu­tz unterliege­n, für die pharmazeut­ische Industrie kein interessan­tes Ziel für die wissenscha­ftliche Weiterentw­icklung. Die rasche Einführung neuer Medikament­e ist daher im Moment nicht zu erwarten. Das könnte sich aber sehr schnell ändern, wenn der Mechanismu­s der Entstehung von Muskelkräm­pfen genau verstanden wird. In Anbetracht der großen Zahl der Betroffene­n werden dann sicher große Anstrengun­gen unternomme­n werden, neue Erkenntnis­se in wirksame therapeuti­sche Optionen umzusetzen.

Interview: Josef Karg

Prof. Helge Topka

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Foto: obs, Hermes Arzneimitt­el GmbH Wadenkrämp­fe können höchst unangenehm werden.

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