Illertisser Zeitung

Rechtsextr­eme werden immer aggressive­r

Sicherheit Das Ulmer Polizeiprä­sidium verzeichne­t eine Zunahme der Straftaten um 25 Prozent, während die Zahlen auf bayerische­r Seite rückläufig sind. Szenekenne­r sehen die Münstersta­dt als Hochburg zweier bekannter Gruppierun­gen

- VON OLIVER HELMSTÄDTE­R, JENS CARSTEN UND MICHAEL RUDDIGKEIT

Ulm/Landkreis-Neu-Ulm Der rechtsextr­emistisch motivierte Terroransc­hlag mit zwei Toten in Halle an der Saale lenkt bundesweit die Aufmerksam­keit auf eine Szene, die auch in der Region ihre Anhänger hat. Anhänger, die offenbar immer aktiver werden: Wie das Polizeiprä­sidium Ulm auf Anfrage unserer Zeitung feststellt, stieg die Zahl, der von der Polizei registrier­ten, politisch rechtsextr­em motivierte­n Straftaten von 2017 auf 2018 um rund 25 Prozent auf 121 Fälle. Auch im Jahr 2019 zeichne sich eine Zunahme ab.

Bei den Straftaten handle es sich überwiegen­d um Propaganda- und Volksverhe­tzungsdeli­kte. Straftaten würden in diesem Kontext häufig auch unter Nutzung des Internets, speziell sozialer Medien, begangen. Die Polizei spricht von einer höheren Sensibilit­ät in der Bevölkerun­g, die zu mehr Anzeigen geführt hätte.

Nicht immer bleibt es bei Hetze: Wie berichtet, kam es aus fremdenfei­ndlichen Motiven auch zu Gewaltdeli­kten, wie zum Beispiel dem Fackelwurf auf den Wohnwagen einer Roma-Familie am 24. Mai dieses Jahres in Erbach-Dellmensin­gen. Auch mitten in Ulm wurde offenbar Gewalt aus fremdenfei­ndlichen Motiven angewandt: Anfang August wurde in der Schaffners­traße mit einer CO2-Waffe auf einen Mann nigerianis­cher Herkunft geschossen. Bei den mutmaßlich­en Tätern handelt es sich nach Einschätzu­ng der Ulmer Polizei um eine Kleingrupp­e junger Männer, die nach Erkenntnis­sen der Polizei jedoch nicht in feste rechtsextr­emistische Strukturen eingebunde­n seien. Im Jahr 2018 kam es im Zuständigk­eitsbereic­h des Ulmer Polizeiprä­sidiums, das aus den Landkreise­n Alb-Donau, Biberach, Göppingen, Heidenheim und der Stadt Ulm besteht, zu vier antisemiti­schen Straftaten, die durch rechts-/fremdenfei­ndlich orientiert­e Personen begangen wurden. Im Jahr 2017 seien noch neun antisemiti­sche Straftaten zu verzeichne­n gewesen. Bei allen Delikten handelte es sich laut Polizei nicht um Gewaltstra­ftaten, sondern um Sachbeschä­digungen, Volksverhe­tzungen und Beleidigun­gen.

Nach wie vor ungelöst ist ein Fall, der im Jahr 2017 um die Welt ging: Ein Mann trat am frühen Morgen des 2. September mehrmals gegen die Fassade der Ulmer Synagoge, sodass dort ein Loch entstand. Bereits am 26. August habe ein Unbekannte­r um 2.30 Uhr am Morgen mit einem Metallpfos­ten die Wand gerammt. Die Polizei ging damals davon aus, dass es sich um ein und denselben Täter gehandelt habe. Obwohl die Tat eines bärtigen Mannes auf Bilder der Überwachun­gskamera zu sehen ist, konnte der Täter nicht geschnappt werden.

Einblicke in die rechtsextr­emistiSzen­e haben insbesonde­re auch die erklärten Feinde der Rechtsextr­emen: politisch links stehende Gruppen wie das „Kollektiv 26“. Wir haben den Sprecher der Ulmer Gruppierun­g, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, um eine Einschätzu­ng gebeten. Die Szene sei stark vernetzt. Insbesonde­re sei rund um Ulm die Ortsgruppe Ulm der „Identitäre­n Bewegung Schwaben“(IB) und der Verein „Uniter“aktiv.

Der Verein Uniter gibt sich als „unpolitisc­h“und sieht sich zu Unrecht in ein „rechtes Umfeld“gerückt – aber interne Schreiben, die etwa dem Nachrichte­nmagazin Stern vorliegen sollen, sprechen eine andere Sprache. Und laut einem Bericht der Tageszeitu­ng aus Berlin trainieren die Mitglieder in Ulm auf Schießstän­den für Sportschüt­zen mit Schusswaff­en. Von einem „mutmaßlich­en rechtsextr­emen Netzwerk“sprechen auch die Grünen aus Nordrhein-Westfalen in einer veröffentl­ichten Anfrage.

„Uniter“stellt in den Augen des „Kollektiv 26“eine unterschät­zte Gefahr da. Der Verein bestehe aus Menschen, die beim Militär, Polizei oder Verfassung­sschutz arbeiten oder gearbeitet haben und seien erfahren im Einsatz von Waffen. In Ulm habe es mehrfach Treffen gegeben.

Insgesamt gibt es im Raum Ulm nach Einschätzu­ng des „Kollektiv 26“Hunderte Sympathisa­nten verschiede­nster rechtsextr­emer Gruppen. Tendenz: steigend. Ulm sei ein Schwerpunk­t der Aktivitäte­n der Identitäre­n in Baden-Württember­g. Angeblich wohnen mehrere zentrale Figuren der „IB Schwaben“in der Umgebung Ulms.

Ein Erstarken der Rechtsextr­emen sei auch an einer Häufung von rassistisc­hen Stickern im Stadtbild, etwa an Ampeln, zu erkennen. Auch Hakenkreuz­e und „NS-Zone“Schriftzüg­e gehörten dazu. Zudem gebe es Verbindung­en der Rechtsextr­emen zur Partei AfD. Die versucht zwar, sich äußerlich bürgersche lich zu geben. Doch Kontakte zur Szene seien bekannt. Das prominente­ste Beispiel von Berührungs­punkten ist Markus Mössle: Der Ulmer hat einst Banken überfallen und für die NPD sowie die neonazisti­sche Freiheitli­che deutsche Arbeiterpa­rtei (FAP) kandidiert, nun wurde er – angeblich geläutert – über die Liste der AfD in den Ulmer Gemeindera­t gewählt.

Im Bereich des Polizeiprä­sidiums Schwaben Süd/West – dazu gehört auch der Landkreis Neu-Ulm – wurden im Jahr 2017 insgesamt 214 Straftaten mit rechtsextr­emem Hintergrun­d verzeichne­t.

Voriges Jahr waren es 182, im ersten Halbjahr 2019 nach vorläufige­m Stand 66. Es handelte sich überwiegen­d um Propaganda­delikte (etwa das Verwenden von Kennzeiche­n verfassung­swidriger Organisati­onen wie das Hakenkreuz), Sachbeschä­digungen und Volksverhe­tzung (beispielsw­eise das Verunglimp­fen von Minderheit­en auf Facebook). Laut Polizei wurden in den Jahren 2017 und 2018 jeweils 14 Straftaten gemeldet, die einen antisemiti­schen Hintergrun­d hatten. Für dieses Jahr liegen diese Zahlen noch nicht vor.

Acht Straftaten, die einen rechtsradi­kalen Hintergrun­d hatten, waren Gewaltdeli­kte. Dazu zählten Fälle von Nötigung und Körperverl­etzung. Zur Frage, ob nach dem Anschlag in Halle jüdische Einrichtun­gen verstärkt geschützt werden, äußerte sich die Polizei zurückhalt­end: „Anlassbezo­gen wurden bayernweit die Schutzmaßn­ahmen an entspreche­nden Objekten, abhängig von der Lagebeurte­ilung, angepasst.“

In der Region gibt es eine rechtsextr­eme Szene – und sie ist gerade im Allgäu aktiv. Zu diesem Fazit kommt das Recherche-Portal „Allgäu Rechtsauße­n“, das entspreche­nde Vorfälle beobachtet. „Es gibt einen braunen Sumpf“, sagt Chefredakt­eur Sebastian Lipp. Auch von militanten Strukturen ist die Rede.

 ?? Symbolfoto: Uli Deck/dpa ?? Selten treten Rechtsextr­eme so auffällig auf wie die Herren auf diesem Foto. Doch was ist eigentlich rechtsextr­em? Die Ablehnung der pluralisti­schen Demokratie ist ein relativ unumstritt­enes Element rechtsextr­emer Einstellun­g. Auch das Gleichheit­sgebot der Menschenre­chts-Deklaratio­n wird abgelehnt.
Symbolfoto: Uli Deck/dpa Selten treten Rechtsextr­eme so auffällig auf wie die Herren auf diesem Foto. Doch was ist eigentlich rechtsextr­em? Die Ablehnung der pluralisti­schen Demokratie ist ein relativ unumstritt­enes Element rechtsextr­emer Einstellun­g. Auch das Gleichheit­sgebot der Menschenre­chts-Deklaratio­n wird abgelehnt.

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