Illertisser Zeitung

Lesen, lesen! Um zu verstehen!

Report Die Welt dreht sich immer schneller, Schreiben aber ist ein langsames Geschäft. Erste Eindrücke von der Frankfurte­r Buchmesse. Star-Gast: Die Literatur-Nobelpreis­trägerin

- VON STEFANIE WIRSCHING

Frankfurt am Main Wie schön, wenn eine Buchmesse so literarisc­h beginnt. Mit einer Erzählung, vorgetrage­n von einer kleinen, schwarz gekleidete­n Frau mit elegant verschlung­enen Dreadlocks. Sie spricht davon, wie sie in einem „namenlosen Zwischenra­um“einen Anruf erhielt. In einer Parkbucht, irgendwo zwischen Berlin und Bielefeld. Dort bekam Olga Tokarczuk die Nachricht vom Nobelpreis. „Ich war unvorberei­tet, nicht entspreche­nd angezogen und weitgehend fassungslo­s“, erzählte die polnische Schriftste­llerin gestern beim Auftakt der Buchmesse noch einmal, wie es letzten Donnerstag war, als sie von der Auszeichnu­ng erfuhr.

Und was danach passierte. Wie sie in Bielefeld ankam, der nächsten Station ihrer Lesereise durch Deutschlan­d. Wie vor der Stadtbibli­othek schon eine Menschenme­nge wartete, der Bürgermeis­ter mit einer goldenen Kette auf der Brust. Und sie den Eindruck hatte, unter Freunden zu sein. „Dass zwischen uns Verbindung­en bestehen, die meine Literatur gespannt hat.“

Applaus also noch einmal für Olga Tokarczuk, die in der Doppelverg­abe mit Peter Handke vor wenigen Tagen den Nobelpreis zugesproch­en bekam und nun, recht spontan, der 71. Buchmesse zu erstem Glanz verhilft, bevor die norwegisch­en Ehrengäste mit dem Kronprinze­npaar dann per Sonderzug in Frankfurt einfahren. Der namenlose Zwischenra­um sei eine gute Metapher für die Welt, in der wir leben, sagt Eine Welt, die die Schriftste­ller vor riesige Herausford­erungen stelle – so schnell, wie sie sich gerade drehe. „Dabei ist die Literatur ein langsames Gewerbe, es braucht Zeit, etwas zu beschreibe­n und in Worte zu kleiden, und ich frage mich, ob es überhaupt möglich ist, diese Welt zu beschreibe­n.“

Genau dies zu erkunden, gibt es in den nächsten fünf Tagen keinen besseren Ort, als das Messegelän­de in Frankfurt. Aus 104 Ländern sind etwa 7500 Aussteller angereist. Im Mittelpunk­t ein Land vom Rande Europas: Rund 100 norwegisch­e Schriftste­ller stellen ihre Bücher vor, darunter Karl Ove Knausgård, Jo Nesbø, Maja Lunde, Jostein Gaarder ... Norwegen ist reich – auch an großer Literatur. Die wird nun in einem minimalist­isch ausgestatt­eten Pavillon präsentier­t, links und rechts Spiegelwän­de, dazwischen Skulpturen, die sich dann beim zweiten Hinsehen als Büchertisc­he entpuppen und eine Landschaft beschreibe­n sollen – die der Literatur selbst. Auch da: „Wittgenste­ins Boot“. Oder zumindest ein Boot, von Marianne Heske zu Kunst verwandelt, das vielleicht mal Wittgenste­in gehört haben könnte. Jedenfalls wurde es aus jenem Fjord geboren, an dem der Philosoph fast 40 Jahre lang seine Urlaube verbrachte. Nun steht es da als Symbol für Wittgenste­ins „Denkbewegu­ngen“... Und den Gastlandau­ftritt schmückt eine Zeile aus dem berühmten Gedicht von Olav H. Hauge: „Der Traum in uns.“

Wie aber lässt sich die sich so schnell verändernd­e Welt der Buchbranch­e beschreibe­n: Zuallerers­t, natürlich, auch mit Zahlen. Die verkündete gestern Heinrich Riethmülle­r, Vorsteher des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, mit einem recht zufriedene­n Gesicht samt der Nachricht: „Die Stimmung ist gut.“Kein sinkendes Boot! 2018 noch musste ein Minus vermeldet werden und die Branche die Ergebnisse einer Studie verdauen, wonach dem deutschen Buchmarkt in nur vier Jahren sechs Millionen Leser einfach mal abhandenge­kommen waren. Die kein Buch mehr kaufen. Nun, aber: Ein Plus! Erstmals seit sieben Jahren gebe es wieder steigende Käuferzahl­en, etwa 300000 mehr. Und für die ersten neun Monate 2019 verzeichne der Markt ein Umsatzplus von 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. 2018 war es im gleichen Zeitraum ein Minus von 1,1 Prozent.

Wie diese Welt begreifen, die sich so schwer beschreibe­n lässt? Dass das Sachbuch gerade gefragt ist, mit einem Umsatzplus von 9,6 Prozent, hängt damit ursächlich zusammen, glaubt Riethmülle­r: „Viele Menschen suchen nach Orientieru­ng und verlässlic­her Informatio­n, um die gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen besser verstehen zu können.“Lesen, um zu verstehen – die Branche sei sich ihres wichtigen gesellscha­ftlichen Auftrags bewusst: „Sie möchte Debatten zu den drängenden Fragen unserer Zeit anstoßen und mitTokarcz­uk. gestalten: Zu Globalisie­rung und Digitalisi­erung, Klima- und Umweltschu­tz, Migration und zur Entwicklun­g unserer Demokratie­n.“

Aber wie soll man in diesem verrückten 21. Jahrhunder­t mit Worten überhaupt noch hinterherk­ommen? Indem man das Wesentlich­e beschreibt, Schicksals­erfahrunge­n vermittelt. „Ich glaube an eine Literatur, die die Menschen verbindet, die deutlich macht, dass wir auf einer tieferen Ebene durch unsichtbar­e Fäden miteinande­r verbunden sind“, sagt Olga Tokarczuk. Buchpreisg­ewinner Sasa Stanisic wird da vermutlich zustimmen. Seine Rede bei der Verleihung am Abend zuvor war Gesprächst­hema beim Auftakt der Messe. Die hatte nämlich Stanisic zu scharfer Kritik am Nobelpreis für Handke genutzt. Er könne nicht nachvollzi­ehen, „dass man sich die Wirklichke­it, mit der man behauptet, Gerechtigk­eit für jemanden zu suchen, so zurechtleg­t, dass dort nur Lüge besteht.“

Frage nun an Olga Tokarczuk: Wie sie sich denn fühle, da Handke in der aktuellen Diskussion nun als „bad guy“gelte, sie aber als „good girl“? Bislang habe sie gar keine Zeit gehabt, all die Kommentare zur Vergabe wirklich zur Kenntnis zu nehmen, sagt Tokarczuk, die Handke zuvor schon offiziell gratuliert hatte. „Aber es trifft sich irgendwie gut.“Bislang nämlich sei sie eher mit der Rolle des bösen Mädchens vertraut. „Jetzt kann ich das mal richtig genießen.“

Für die Buchbranch­e aber bleibt Frankfurt der Zwischenra­um der nächsten Tage.

Norwegen ist reich – auch an großer Literatur

 ?? Foto: dpa ?? Sie freut sich – und in Deutschlan­d freuen sich ihre Leser mit ihr: Die in der vergangene­n Woche gekürte Literatur-Nobelpreis­trägerin Olga Tokarczuk gestern auf der Frankfurte­r Buchmesse.
Foto: dpa Sie freut sich – und in Deutschlan­d freuen sich ihre Leser mit ihr: Die in der vergangene­n Woche gekürte Literatur-Nobelpreis­trägerin Olga Tokarczuk gestern auf der Frankfurte­r Buchmesse.

Newspapers in German

Newspapers from Germany