Lesen, lesen! Um zu verstehen!
Report Die Welt dreht sich immer schneller, Schreiben aber ist ein langsames Geschäft. Erste Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse. Star-Gast: Die Literatur-Nobelpreisträgerin
Frankfurt am Main Wie schön, wenn eine Buchmesse so literarisch beginnt. Mit einer Erzählung, vorgetragen von einer kleinen, schwarz gekleideten Frau mit elegant verschlungenen Dreadlocks. Sie spricht davon, wie sie in einem „namenlosen Zwischenraum“einen Anruf erhielt. In einer Parkbucht, irgendwo zwischen Berlin und Bielefeld. Dort bekam Olga Tokarczuk die Nachricht vom Nobelpreis. „Ich war unvorbereitet, nicht entsprechend angezogen und weitgehend fassungslos“, erzählte die polnische Schriftstellerin gestern beim Auftakt der Buchmesse noch einmal, wie es letzten Donnerstag war, als sie von der Auszeichnung erfuhr.
Und was danach passierte. Wie sie in Bielefeld ankam, der nächsten Station ihrer Lesereise durch Deutschland. Wie vor der Stadtbibliothek schon eine Menschenmenge wartete, der Bürgermeister mit einer goldenen Kette auf der Brust. Und sie den Eindruck hatte, unter Freunden zu sein. „Dass zwischen uns Verbindungen bestehen, die meine Literatur gespannt hat.“
Applaus also noch einmal für Olga Tokarczuk, die in der Doppelvergabe mit Peter Handke vor wenigen Tagen den Nobelpreis zugesprochen bekam und nun, recht spontan, der 71. Buchmesse zu erstem Glanz verhilft, bevor die norwegischen Ehrengäste mit dem Kronprinzenpaar dann per Sonderzug in Frankfurt einfahren. Der namenlose Zwischenraum sei eine gute Metapher für die Welt, in der wir leben, sagt Eine Welt, die die Schriftsteller vor riesige Herausforderungen stelle – so schnell, wie sie sich gerade drehe. „Dabei ist die Literatur ein langsames Gewerbe, es braucht Zeit, etwas zu beschreiben und in Worte zu kleiden, und ich frage mich, ob es überhaupt möglich ist, diese Welt zu beschreiben.“
Genau dies zu erkunden, gibt es in den nächsten fünf Tagen keinen besseren Ort, als das Messegelände in Frankfurt. Aus 104 Ländern sind etwa 7500 Aussteller angereist. Im Mittelpunkt ein Land vom Rande Europas: Rund 100 norwegische Schriftsteller stellen ihre Bücher vor, darunter Karl Ove Knausgård, Jo Nesbø, Maja Lunde, Jostein Gaarder ... Norwegen ist reich – auch an großer Literatur. Die wird nun in einem minimalistisch ausgestatteten Pavillon präsentiert, links und rechts Spiegelwände, dazwischen Skulpturen, die sich dann beim zweiten Hinsehen als Büchertische entpuppen und eine Landschaft beschreiben sollen – die der Literatur selbst. Auch da: „Wittgensteins Boot“. Oder zumindest ein Boot, von Marianne Heske zu Kunst verwandelt, das vielleicht mal Wittgenstein gehört haben könnte. Jedenfalls wurde es aus jenem Fjord geboren, an dem der Philosoph fast 40 Jahre lang seine Urlaube verbrachte. Nun steht es da als Symbol für Wittgensteins „Denkbewegungen“... Und den Gastlandauftritt schmückt eine Zeile aus dem berühmten Gedicht von Olav H. Hauge: „Der Traum in uns.“
Wie aber lässt sich die sich so schnell verändernde Welt der Buchbranche beschreiben: Zuallererst, natürlich, auch mit Zahlen. Die verkündete gestern Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, mit einem recht zufriedenen Gesicht samt der Nachricht: „Die Stimmung ist gut.“Kein sinkendes Boot! 2018 noch musste ein Minus vermeldet werden und die Branche die Ergebnisse einer Studie verdauen, wonach dem deutschen Buchmarkt in nur vier Jahren sechs Millionen Leser einfach mal abhandengekommen waren. Die kein Buch mehr kaufen. Nun, aber: Ein Plus! Erstmals seit sieben Jahren gebe es wieder steigende Käuferzahlen, etwa 300000 mehr. Und für die ersten neun Monate 2019 verzeichne der Markt ein Umsatzplus von 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. 2018 war es im gleichen Zeitraum ein Minus von 1,1 Prozent.
Wie diese Welt begreifen, die sich so schwer beschreiben lässt? Dass das Sachbuch gerade gefragt ist, mit einem Umsatzplus von 9,6 Prozent, hängt damit ursächlich zusammen, glaubt Riethmüller: „Viele Menschen suchen nach Orientierung und verlässlicher Information, um die gesellschaftlichen Entwicklungen besser verstehen zu können.“Lesen, um zu verstehen – die Branche sei sich ihres wichtigen gesellschaftlichen Auftrags bewusst: „Sie möchte Debatten zu den drängenden Fragen unserer Zeit anstoßen und mitTokarczuk. gestalten: Zu Globalisierung und Digitalisierung, Klima- und Umweltschutz, Migration und zur Entwicklung unserer Demokratien.“
Aber wie soll man in diesem verrückten 21. Jahrhundert mit Worten überhaupt noch hinterherkommen? Indem man das Wesentliche beschreibt, Schicksalserfahrungen vermittelt. „Ich glaube an eine Literatur, die die Menschen verbindet, die deutlich macht, dass wir auf einer tieferen Ebene durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden sind“, sagt Olga Tokarczuk. Buchpreisgewinner Sasa Stanisic wird da vermutlich zustimmen. Seine Rede bei der Verleihung am Abend zuvor war Gesprächsthema beim Auftakt der Messe. Die hatte nämlich Stanisic zu scharfer Kritik am Nobelpreis für Handke genutzt. Er könne nicht nachvollziehen, „dass man sich die Wirklichkeit, mit der man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurechtlegt, dass dort nur Lüge besteht.“
Frage nun an Olga Tokarczuk: Wie sie sich denn fühle, da Handke in der aktuellen Diskussion nun als „bad guy“gelte, sie aber als „good girl“? Bislang habe sie gar keine Zeit gehabt, all die Kommentare zur Vergabe wirklich zur Kenntnis zu nehmen, sagt Tokarczuk, die Handke zuvor schon offiziell gratuliert hatte. „Aber es trifft sich irgendwie gut.“Bislang nämlich sei sie eher mit der Rolle des bösen Mädchens vertraut. „Jetzt kann ich das mal richtig genießen.“
Für die Buchbranche aber bleibt Frankfurt der Zwischenraum der nächsten Tage.
Norwegen ist reich – auch an großer Literatur