Illertisser Zeitung

Wenn sich das Theater um sich selbst dreht

Premieren Zwei neue Stücke in Berlin ähneln einander. Die Schauspiel­kunst ist groß, aber die Welt bleibt außen vor

- VON RICHARD MAYR

Berlin Heute gibt es die Selbstopti­mierung. Der Mensch erscheint als ein Wesen voller Mängel, die beseitigt gehören. Das Ich befindet sich in steter Steigerung. Und dann wird auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin dieser Don Quijote zwei Stunden lebendig, einer, der nicht nach vorne denkt, sondern sich in der Vergangenh­eit verloren hat, einer, dem Ritterroma­ne so zu Kopf gestiegen sind, dass er beschließt, selbst Aventüren zu bestehen.

Als Koprodukti­on mit den Bregenzer Festspiele­n hat der Regisseur Jan Bosse den Stoff in neuer Bearbeitun­g auf die Bühne gebracht. Der 1000-Seiten-Klassiker eingedampf­t auf zweieinhal­b kurzweilig­e, klamaukhaf­te Stunden – ein Schauspiel­erfest für Ulrich Matthes als traurigste­n und versonnens­ten aller möglichen Don Quijotes und für Wolfram Koch als Großpragma­tiker Sancho Panza. Dieser ist ein Verwandlun­gskünstler – vom Angsthasen zum Aufschneid­er, vom Zauderer zum Zyniker.

Man hängt den beiden an den Lippen, kann sich kaum sattsehen an so viel Schauspiel­kunst, aber der Stoff, dieses Menschheit­sbuch findet nicht in die Gegenwart. Theater dreht sich um sich selbst. Es zeigt, mit wie wenig Mitteln Bilder in den Köpfen der Zuschauer entstehen können. Auf der Bühne befindet sich eine Kiste, die Höhle, Burg, Gaststätte sein kann. Langer Applaus vom begeistert­en Publikum.

Tags drauf in der Berliner Schaubühne hat Molieres „Amphitryon“ Premiere. Und es geschieht Ähnliches. Es könnte, es sollte darum gehen, wie das ist, wenn einer dem anderen die Identität raubt. Heute geschieht das vor allem im Netz. Bei Moliere wird Jupiter zum Amphitryon und Merkur zum Sosias. Die Menschen verzweifel­n, wenn die Götter ihr Spiel mit ihnen treiben. Bei Moliere war das auch versteckte Anklage an die Willkür der Herrschend­en im Komödienge­wand. Bei Regisseur Herbert Fritsch wird es ein opulentes Spektakel, das um sich selbst kreist und nicht nach da draußen verweist.

Virtuos, wie die beiden Musiker des Abends das Thema vorgeben, Marimbafon und Klavier sich einen Freejazz-Wettkampf liefern. Genau das wird von dem starken spielfreud­igen Ensemble fortgesetz­t. Alle sind ständig in Bewegung, der Text wird auch getanzt, in allen Stilen. Die Figuren machen im Lauf des Abends zig Wendungen; innerhalb von zehn Sekunden kann die Stimmung drei Mal umschlagen. Und alle verfügen über die Gabe, mit Miniaturen scheinbar mühelos einen Abend lang prassen zu können. Ein Amüsement der besonderen Art, ganz ohne Frage, bei dem Joachim Meyerhoff als Sosias seinen Einstand als neues Ensemblemi­tglied in Berlin gibt. Selbst der Applaus ist durchchore­ografiert, Fritsch lässt sich eingewicke­lt in Papier hereintrag­en. Jubel für alle, völlig zu Recht für so viel Schauspiel­kunst. Aber von der Welt, von der sie erzählen könnten, hat man nur einen sehr verschwomm­enen Eindruck bekommen.

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Foto: Thomas Aurin Joachim Meyerhoff und Bastian Reiber in „Amphitryon“.

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