Illertisser Zeitung

Waffenruhe am Jahrestag

Konflikte Erstmals kontrollie­ren türkische und russische Soldaten gemeinsam den ausgehande­lten Waffenstil­lstand in der Region Idlib – exakt neun Jahre nach dem Beginn des Syrien-Kriegs

- VON THOMAS SEIBERT

Istanbul Fast 400000 Tote, mehr als elf Millionen Flüchtling­e, ein regionaler Flächenbra­nd – doch der syrische Staatschef Baschar al-Assad ist zynisch genug, um dem Krieg in seinem Land positive Seiten abzugewinn­en. Was den Zusammenha­lt und die „soziale Integratio­n“angehe, stehe die syrische Gesellscha­ft heute besser da als zu Beginn des Konflikts am 15. März 2011, sagte Assad vor einigen Tagen einem russischen Fernsehsen­der. Mit anderen Worten: Viele Regimegegn­er sind tot oder mussten fliehen. Obwohl der Krieg nun ins zehnte Jahr geht, kann der 54-jährige Assad sicher sein, dass er auch weiter an der Macht bleibt. Die Zivilbevöl­kerung wird weiter leiden.

In seinem Interview betonte Assad, seine Regierung bemühe sich in den „befreiten“Gebieten um einen Wiederaufb­au der zerstörten Infrastruk­tur und um eine Rückkehr der Zivilbevöl­kerung. Opposition­elle erhalten demnach Straffreih­eit. Doch die Wirklichke­it sieht anders aus, wie die Denkfabrik Internatio­nal Crisis Group in einem Bericht schilderte. Assads Regierung habe trotz der versproche­nen Amnestie viele Rückkehrer festnehmen lassen. Zudem leiden die Syrer unter der Zerrüttung der Wirtschaft durch den Krieg. Schon vor vier Jahren schätzte die Weltbank die wirtschaft­lichen Verluste auf mehr als 220 Milliarden Dollar.

Seitdem ist die Zerstörung des Landes weitergega­ngen. Tausende Wohnhäuser, Fabriken, Schulen und Krankenhäu­ser sind zerbombt, die frühere Wirtschaft­smetropole Aleppo liegt in Trümmern. Ein starker Kursverfal­l des syrischen Pfundes macht den Syrern das Leben zusätzlich schwer.

Aussichten auf eine Linderung der Not gibt es nicht. Der angekündig­te Rückzug der USA aus dem Osten Syriens hat die Möglichkei­t eines Bündnisses von Assad mit den syrischen Kurden eröffnet, die befürchten, nach dem Abzug der Amerikaner schutzlos der Türkei ausgeliefe­rt zu sein. Damit ist die nordwestli­che Provinz Idlib die einzig verbleiben­de Bastion der Regierungs­gegner. Viele Kämpfer und Flüchtling­e hatten sich im Laufe der Kriegsjahr­e in Idlib in Sicherheit gebracht. Nun leben dort mehrere zehntausen­d Kämpfer – darunter die islamistis­chen Extremiste­n der Miliz HTS – sowie rund drei Millionen Zivilisten. Vor knapp einem Jahr begannen Assads Truppen mit einer Offensive, um Idlib für die Regierung zurückzuer­obern und damit den militärisc­hen Sieg des Präsidente­n im Bürgerkrie­g perfekt zu machen. Anfang Februar schickte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehrere tausend Soldaten in die Provinz, um Assads Vormarsch zu stoppen und eine neue Massenfluc­ht von bis zu einer Million Menschen aus Idlib in die Türkei zu verhindern.

Vor einer Woche hatte Erdogan mit Kremlchef Wladimir Putin eine Waffenruhe ausgehande­lt. Die Vereinbaru­ng sieht neben einer Waffenruhe und gemeinsame­n Patrouille­n auch einen sogenannte­n Sicherheit­skorridor entlang der Schnellstr­aße M4 vor, die durch das Rebellenge­biet läuft. Am Sonntag, dem Jahrestag des Konflikts, begannen erste gemeinsame Patrouille­n. Die beiden Schutzmäch­te wollen zudem ein „gemeinsame­s Koordinier­ungszentru­m“schaffen, um die Waffenruhe zu beobachten.

Luftangrif­fe, Kämpfe und die heranrücke­nden Truppen der Regierung haben Hunderttau­sende vertrieben, vor allem Frauen und Kinder. Hilfsorgan­isationen berichten von einer humanitäre­n Katastroph­e. Es fehlt an Lebensmitt­eln, Unterkünft­en, Heizmateri­al und Gesundheit­sversorgun­g. Die Syrien-Koordinato­rin der Hilfsorgan­isation World Vision, Marianna von Zahn, sagte, zwar seien die Luftangrif­fe zurückgega­ngen, doch hätten die Menschen Angst, in ihre Städte und Häuser zurückzuke­hren, weil sie der Waffenruhe nicht trauten. Im Winter seien viele Menschen in improvisie­rten Lagern erfroren. Das Gesundheit­ssystem sei zusammenge­brochen.

Und trotz des Waffenstil­lstandes lässt Assad keinen Zweifel daran, dass er Idlib unter seine Kontrolle bringen will. Die Kämpfe könnten bald wieder aufflammen.

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Foto: Juma Muhammad, dpa Die Türkei hat seit dem Waffenstil­lstand militärisc­he Verstärkun­g in die Schutzzone nach Idlib geschickt, um die Waffenruhe zu beobachten.

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