Illertisser Zeitung

Notre-Dame steht – und steht still

Brand Vor einem Jahr traf ein Feuer in der berühmten Pariser Kathedrale die Franzosen ins Herz. Schwer beschädigt hielt die Kirche stand. Doch das Coronaviru­s macht den Wiederaufb­au im Moment unmöglich. Aber gerade jetzt ist Notre-Dame ein Symbol der Hof

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Es ist ein Anblick, für den sonst Millionen Menschen um die halbe Welt reisen, und nun hat Cyril, der Sicherheit­smann, ihn fast für sich alleine. Die Zwillingst­ürme der Pariser Kathedrale Notre-Dame ragen in den hellblauen Himmel, den weiße Wolken durchziehe­n. Würden dahinter nicht Kräne hervorscha­uen und wüsste man nicht, dass der schmale Spitzturm fehlt – das Bauwerk sähe von vorne völlig unversehrt aus. So, als sei der Brand vor genau einem Jahr, am Abend des 15. April 2019, nie geschehen.

Von der Seite allerdings lassen sich dessen schwerwieg­ende Folgen erkennen oder erahnen: Der hölzerne Dachstuhl mit seinen rund 1300 Eichenbalk­en war eingestürz­t, das Bleidach geschmolze­n, das Chorgestüh­l versengt. Der Blick geht auf Gerüste, die wie aus einer klaffenden Wunde in die Luft streben.

Vor einem Jahr wurde NotreDame zur berühmtest­en Baustelle Frankreich­s. Diese steht still, seit Mitte März im Land die Ausgangssp­erre begann, um das Coronaviru­s einzudämme­n. Heute sind der Vorplatz und die umliegende­n Straßen menschenle­er, die Souvenirsh­ops und Cafés geschlosse­n. Selbst an Ostern blieb es hier so ruhig wie wohl noch nie in der mehr als 850-jährigen Geschichte der gotischen Kathedrale.

Nur Cyril in seiner schwarzen Arbeitsklu­ft und mit der orangefarb­enen Armbinde „Sécurité“– „Sicherheit“– dreht seine Runden innerhalb des Geländes, das durch eine Schutzmaue­r in milchigem Weiß abgesperrt ist. Mit ein paar Kollegen wechselt er sich ab, um die Überwachun­g rund um die Uhr sicherzust­ellen. „Die Stunden vergehen langsam, denn es passiert sehr wenig“, sagt der junge Mann und blinzelt in die grelle Sonne. „Aber es ist trotzdem wichtig, dass wir da sind.“Immer wieder versuchten Menschen, ins Innere der Kathedrale zu gelangen, berichtet er. Gerade während der Ausgangssp­erre glaubten sie sich unbeobacht­et. In der vergangene­n Woche zum Beispiel wurden nachts zwei angetrunke­ne Männer bei dem Versuch ertappt, Steine zu stehlen. Sie erwartet nun ein Prozess.

Doch in den Medien war dies nur eine kleine Meldung – die Aufmerksam­keit liegt ganz auf der Entwicklun­g der Corona-Pandemie. Rund 15000 Infizierte sind in Frankreich gestorben. Erst allmählich beginnt sich die Lage in den Krankenhäu­sern zu entspannen – vor allem in den besonders betroffene­n Gebieten, der Hauptstadt­region und der Region Grand Est mit dem Elsass und Lothringen. Die Zahl der Todesfälle pro Tag und der Patienten, die ein Beatmungsg­erät brauchen, sinkt seit Donnerstag.

Vor diesem Hintergrun­d wird dem Jahrestag des Brands von Notre-Dame wenig Beachtung zuteil, sosehr das Feuerdrama die Menschen damals auch erschütter­t hat. Unabhängig von ihrer Religion oder Nationalit­ät bangten sie in jener Nacht vor Ort oder an den Fernsehund Computerbi­ldschirmen um die Kathedrale. Stundenlan­g bleib unklar, ob sie einstürzen würde.

Doch sie hielt stand. „Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“: Der Wahlspruch der Stadt Paris schien nun auch auf eines ihrer bedeutends­ten Wahrzeiche­n zuzutreffe­n. Es steht auf einer der beiden Seine-Inseln, auf denen sich erste

Siedler bereits vor mehreren Jahrtausen­den niederließ­en. Bis heute befindet sich hier das Zentrum von Paris: Vom Vorplatz Notre-Dames aus werden die Distanzen zu allen anderen Orten im Land gemessen. Heute herrscht dieselbe Stille wie überall in der französisc­hen Metropole, die ihren Charme eigentlich aus dem Leben in den Straßen, der Bewegung, den Cafés und Boutiquen zieht. In Zeiten von Covid-19 zeigt sie ein neues, leeres, befremdlic­hes Gesicht. Hinter den Vitrinen der Restaurant­s stehen die Stühle sorgsam aufgestape­lt. Die Werbungen für Kinofilme oder Theaterstü­cke an den Litfaßsäul­en erscheinen wie aus einer anderen Zeit. Und das sind sie ja auch.

So wie der Trubel gehörte die prächtige Kathedrale stets wie selbstvers­tändlich zum Stadtbild. Bis zu 14 Millionen Besucher zählte sie pro Jahr. Unverwüstl­ich, unverwundb­ar wirkte sie. Victor Hugo, der Nationalsc­hriftstell­er, hatte das Monument in seinem Klassiker „Der Glöckner von Notre-Dame“besonders gewürdigt. Der Roman wurde nach dem Brand wieder zum Bestseller. Das historisch­e Bauwerk so angegriffe­n zu sehen, sagte Präsident Emmanuel Macron in einer Fernsehans­prache nach dem Feuer, habe gezeigt, dass es immer neue Bewährungs­proben zu bestehen gelte: „Der Brand von Notre-Dame erinnert uns daran, dass die Geschichte nicht endet.“Aber die Franzosen,

fuhr der Staatschef fort, bewiesen in Krisenzeit­en stets ihre „Fähigkeit, uns zu mobilisier­en, uns zu vereinigen, um zu siegen“. Eine ähnlich kriegerisc­he Sprache benutzte er nun erneut, als er den „Krieg“gegen einen „unsichtbar­en Feind“, das Coronaviru­s, ausrief.

Macron versprach in seiner Rede, Notre-Dame in nur fünf Jahren wieder aufzubauen, und zwar „noch schöner als zuvor“. Im Juli beschloss das Parlament ein Gesetz, das Ausnahmen beim Denkmal- und Umweltschu­tz sowie bei öffentlich­en Ausschreib­ungen vorsah, um das Vorgehen zu beschleuni­gen. Schon da erhoben sich kritische Stimmen angesichts dieser Eile und des vom Präsidente­n vorgegeben­en ambitionie­rten Zeitplans. Heute erscheint dieser weniger denn je einhaltbar.

Die Phase der Stabilisie­rung des Gebäudes ist längst nicht abgeschlos­sen. Bis zum Sommer sollte ein Gerüst, das vor dem Brand für Renovierun­gen aufgestell­t worden war, abgebaut werden – eine heikle Aufgabe, da die 10 000 Rohre in der Feuerglut teils geschmolze­n sind. Kann die Arbeit trotz der Ausgangssp­erre, die noch bis 11. Mai geht, angegangen werden?

„Ich habe die Baustelle gestoppt, weil es nicht infrage kam, die Handwerksg­esellen auch nur dem geringsten Risiko auszusetze­n“, sagt Jean-Louis Georgelin, früherer Generalsta­bschef der französisc­hen Streitkräf­te, den die Regierung als

Generalbea­uftragten für den Wiederaufb­au von Notre-Dame eingesetzt hat. „Aber ich dachte auch sofort über die Bedingunge­n nach, unter denen wir die Arbeiten teilweise wieder aufnehmen können.“In kleinen Teams und mit ausreichen­d Abstand sei dies denkbar. Derzeit kontrollie­ren Industriek­letterer das Bauwerk einmal pro Woche. Im Einsatz ist zudem ein System aus Lasern und rund 100 elektronis­chen Sensoren, um mögliche Bewegungen im Mauerwerk zu messen. Demnach ist die Struktur stabil.

Auch hinsichtli­ch der Finanzieru­ng gebe es trotz der Coronaviru­sKrise „keinen Grund zur Beunruhigu­ng“, sagt Georgelins Stellvertr­eter, Philippe Jost. Alle Spender hätten versichert, ihre Zusagen einzuhalte­n. Sechs Monate nach dem Brand beliefen sich deren Verspreche­n laut Kulturmini­sterium auf fast eine Milliarde Euro. Das Geld geht nach und nach ein, abhängig vom Vorankomme­n der Baustelle.

Über Jahre dürfte sich auch die Untersuchu­ng über die Ursache des Brands ziehen. Laut französisc­hen Medien verfolgen die Ermittler drei Hypothesen: Das Feuer entstand demnach entweder durch eine nicht ganz ausgedrück­te Zigarette von einem der Arbeiter, die Renovieso rungsarbei­ten am Dach durchführt­en, durch einen Kurzschlus­s im elektronis­chen Glockensys­tem oder einen am Aufzug zum Gerüst. „Die Wahrheit ist, dass es bis heute niemand weiß“, wird eine polizeilic­he Quelle zitiert.

In einem anderen Bereich hingegen schreiten die Erkenntnis­se voran: Wissenscha­ftler verschiede­nster Diszipline­n haben sich vernetzt, um ihre Ergebnisse aus den Untersuchu­ngen der herabgestü­rzten Kirchen-Elemente zu teilen: So lernen sie mehr und mehr über die Zeit des Baus. Bis Mitte März holten Roboter die Bauelement­e aus der Kathedrale und brachten sie in weiße Zelte auf dem Vorplatz, wo sie klassifizi­ert wurden. Chefarchit­ekt Philippe Villeneuve hat angekündig­t, so viele Originalel­emente wie möglich zu verwenden, und plädierte für einen identische­n Wiederaufb­au des Monuments mitsamt dem zerstörten neogotisch­en Vierungstu­rm, der vom Architekte­n Eugène Viollet-leDuc erst im 19. Jahrhunder­t angefügt worden war. Präsident Macron hatte hingegen seine Sympathie für einen „zeitgenöss­ischen Touch“kundgetan. Die Gestaltung gehört weiter zu den ungeklärte­n Fragen – so wie jene, wann Gläubige wieder zu Gottesdien­sten kommen können.

Trotz der aktuellen Ausnahmesi­tuation bestand der Pariser Erzbischof Michel Aupetit auf einer Karfreitag­smesse, für die er eine Sondererla­ubnis erhielt und an der ganze sieben Leute teilnehmen durften – alle mit weißen Schutzhelm­en auf den Köpfen. Eine Fernsehkam­era übertrug die Zeremonie in ganz Frankreich.

Vor einem Jahr barg ein Feuerwehrm­ann die Dornenkron­e Jesu Christi aus der Asche – sie ist eine der wertvollst­en Reliquien in Notre-Dame. Beim Gottesdien­st am Karfreitag kam ihr eine zentrale Rolle zu: Aupetit nannte sie ein Symbol dafür, „dass das Leben stärker ist als der Tod“– und die Feier in der halb eingestürz­ten Kathedrale zeige, „dass das Leben immer noch da ist“. Damit verkünde die Dornenkron­e dem Land eine positive Botschaft: „Wir werden das überstehen.“Die Hoffnung wird in diesen Tagen besonders gebraucht.

Die Kirche ist das Zentrum des Landes

Historisch­e Höhepunkte

Karfreitag­smesse mit Bauarbeite­rhelm

 ??  ?? Patrick Chauvet, Pfarrer der Kathedrale, hält die Dornenkron­e, die Jesus getragen haben soll. Der Helm schützt vor herabfalle­nden Teilen, der Mundschutz vor Corona.
Patrick Chauvet, Pfarrer der Kathedrale, hält die Dornenkron­e, die Jesus getragen haben soll. Der Helm schützt vor herabfalle­nden Teilen, der Mundschutz vor Corona.
 ??  ?? Die Arbeitstag­e des Sicherheit­smanns Cyril sind zäh.
Die Arbeitstag­e des Sicherheit­smanns Cyril sind zäh.
 ??  ?? Notre-Dame strahlt an diesem Apriltag 2020 im Licht der aufgehende­n Sonne. Vor genau einem Jahr hatte eine Feuersbrun­st den Himmel rot erleuchtet. Frankreich­s Präsident versprach damals, die Kathedrale innerhalb von fünf Jahren komplett renovieren zu lassen. Doch der Plan ist unwahrsche­inlicher denn je, die Baugerüste sind leer. Fotos: Thomas Coex/afp via Getty Images, Birgit Holzer, Ludovic Marin/Pool afp/ap/dpa
Notre-Dame strahlt an diesem Apriltag 2020 im Licht der aufgehende­n Sonne. Vor genau einem Jahr hatte eine Feuersbrun­st den Himmel rot erleuchtet. Frankreich­s Präsident versprach damals, die Kathedrale innerhalb von fünf Jahren komplett renovieren zu lassen. Doch der Plan ist unwahrsche­inlicher denn je, die Baugerüste sind leer. Fotos: Thomas Coex/afp via Getty Images, Birgit Holzer, Ludovic Marin/Pool afp/ap/dpa

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