Illertisser Zeitung

Ein Rede, wie keine zuvor

Zeitgeschi­chte Der frühere Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker wäre heute 100 Jahre alt

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Die Liste der Bundespräs­identen der Bundesrepu­blik kann sich sehen lassen. Brillante, kluge, bisweilen sehr eigene Köpfe waren darunter – man denke an Theodor Heuss (1949–1959), Gustav Heinemann (1969–1974) oder Roman Herzog (1994–1999). Doch in allen Umfragen, allen Ranglisten steht ein Mann ganz oben: Richard von Weizsäcker. Warum nimmt der Jurist und CDU-Politiker, der am heutigen Mittwoch seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, einen so herausrage­nden Platz im kollektive­n Gedächtnis des Deutschen ein?

Die politische Macht deutscher Bundespräs­identen ist begrenzt. Repräsenti­eren soll seine vornehmste Aufgabe sein, beschlosse­n die Männer und Frauen, die das Grundgeset­z der 1949 gegründete­n Bundesrepu­blik ausarbeite­ten. Was die Tagespolit­ik betrifft, war Zurückhalt­ung vorgesehen – von einem

Schweigege­lübde ist jedoch nicht die Rede. Wer nicht schweigt, redet oder hält, insbesonde­re wenn er Präsident ist, Ansprachen – am besten bedeutende, wegweisend­e.

8. Mai 1985: Der Mann mit dem silbrigen Haar tritt vor den Bundestag – 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser Tag sei kein „Tag der Niederlage“, sondern ein „Tag der Befreiung“gewesen, sagt das Staatsober­haupt. Ein Satz, der im Deutschlan­d des Jahres 1985 Anlass für erbitterte­n Streit ist. Nicht zuletzt für viele konservati­ve Politiker, für die der 8. Mai 1945 als Datum der Kapitulati­on und des verlorenen Krieges gilt, grenzte Weizsäcker­s Aussage an Verrat.

Und doch erscheint das Aufsehen, das die Rede – auch gerade im Ausland – erregte, aus heutiger Sicht erstaunlic­h. Die ungeheure Wirkung, die Weizsäcker erzielte, lag zu einem guten Teil in einer Vita begründet, in der sich die gewaltigen Brüche und Abgründe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunder­t exemplaris­ch zu bündeln scheinen. Als junger Jurist unterstütz­te Richard von Weizsäcker seinen Vater Ernst Heinrich, der von 1938 bis 1943 Staatssekr­etär im Außenminis­terium war, 1948 bei dem „Wilhelmstr­aßen-Prozess“gegen Diplomaten des Dritten Reiches. Richard von Weizsäcker, der am 15. April in Stuttgart geboren wurde, war ein überzeugte­r Gegner der Kollektivs­chuld-Theorie. „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich“, sagte er. Genauso entschloss­en benannte Weizsäcker die Verbrechen nationalso­zialistisc­her Gewaltherr­schaft, trat für Versöhnung und Weltoffenh­eit ein. Und er tat dies mit einer sympathisc­h unaufgereg­ten Ernsthafti­gkeit – sei es als CDU-Bundestags­abgeordnet­er oder als Regierende­r Bürgermeis­ter von Berlin.

Sein Blick ging oft über die Tagespolit­ik

hinaus. Als Parteifreu­nde Umweltschu­tz noch als Spielwiese „grüner Spinner“abtaten, warnte er: „Eine zweite Arche Noah wird es nicht geben, die uns in eine bessere Zukunft hinüberret­tet.“

Richard von Weizsäcker starb am 31. Januar 2015 in Berlin. Er wurde 94 Jahre alt.

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Archivfoto: dpa Richard von Weizsäcker beim Empfang zu seinem 90. Geburtstag. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.

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