Illertisser Zeitung

Österreich öffnet sich vorsichtig der Normalität

Hintergrun­d Die Politik der Alpenrepub­lik war in den vergangene­n Wochen oft Vorbild für die deutschen Nachbarn. Jetzt lockert die Regierung in Wien die Beschränku­ngen. Allerdings droht dem Land nun eine empfindlic­he Sammelklag­e

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Die österreich­ische „neue Normalität“spielt sich vor allem im Baumarkt ab: Lange vor Öffnung der Türen warteten die Kunden am Dienstagmo­rgen mit Mund-NasenSchut­z ausgestatt­et und ausreichen­d Abstand in Schlangen auf Einlass. Denn obwohl die Ausgangsbe­schränkung­en mindestens bis 28. April bestehen, verkaufen seit Dienstag kleine Geschäfte und Baumärkte Rindenmulc­h, Baumateria­l oder Frühlingsb­lumen. „Viele wollen den Garten oder Balkon herrichten oder die Wohnung renovieren“, erklärt ÖVP-Innenminis­ter Karl Nehammer den Andrang.

Zur Sicherheit darf nur ein Kunde pro 20 Quadratmet­er Ladenfläch­e eintreten. Um die Zahl zu begrenzen, werden die Einkaufswa­gen abgezählt. Wer keinen Wagen bekommt, darf nicht in den Baumarkt. Auch vor Autowaschs­traßen bilden sich lange Fahrzeugsc­hlangen.

In kleinen Geschäften dagegen blieb es oft ruhig. Modeboutiq­uen lockten mit Preissenku­ngen. Besitzerin­nen öffneten trotz des eiskalten Wiener Windes die Ladentür weit, um Kunden anzulocken. Doch nur vor Eisenwaren­handlungen und Handarbeit­sgeschäfte­n warteten Kunden auf dem Bürgerstei­g. Und vor Apotheken. Denn sie haben inzwischen die begehrten FFP2-Masken im Angebot, die in Österreich lange Mangelware waren. Wenn auch zu stolzen Preisen von zwischen zehn und zwanzig Euro das Stück – vor der Krise kostete das Heimwerker­material unter 50 Cent Einkaufspr­eis. „Die Masken schützen Sie“, ruft ein Apotheker aus dem Hintergrun­d. So können die Bürger angeblich unbesorgt öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzen. Die ÖBB verzeichne­ten am Dienstag nach tagelanger Flaute ein Plus von 25 Prozent. Für alle Fahrgäste gilt Nasen-und Mundschutz­Pflicht.

Bundeskanz­ler Sebastian Kurz gab in seiner Pressekonf­erenz die Losung aus: „So viel Freiheit wie möglich und so viele Einschränk­ungen wie notwendig.“Die Infektions­zahlen hätten sich gut genug für Lockerunge­n entwickelt. „Doch sollten sich die Zahlen in die falsche Richtung entwickeln, werden wir die Notbremse ziehen.“Tatsächlic­h verdoppelt sich die Zahl der Infizierte­n in Österreich derzeit nur alle 39 Tage, sehr viel langsamer als in Bayern und Deutschlan­d. Österreich­s Corona-Politik war in den vergangene­n Wochen oft Vorbild für die Nachbarn.

Auch die Zahl der Anrufe bei der Corona-Hotline ist drastisch gesunken, was als Anzeichen für die geringeren Sorgen der Bevölkerun­g gewertet wird. Die Kapazitäte­n der Intensivst­ationen und Krankenhau­sbetten reichen aus. Auch die Beschaffun­g von Tests und Schutzklei­dung ist nach Worten des Grünen-Gesundheit­sministers Rudi Anschober „kein Riesenprob­lem“mehr. Die guten Nachrichte­n könBahnen nen jedoch nicht darüber hinwegtäus­chen, dass Österreich weiter restriktiv vorgeht und einen Schwerpunk­t auf Erleichter­ungen für die Wirtschaft setzt. „Wir legen die Priorität auf die Öffnung der Geschäfte“, so Kurz. „Die Schulen öffnen wir zu einem späteren Zeitpunkt.“Und weiter: „Gerade bei Kindern ist Abstand halten und das Tragen von Masken nicht so einfach wie bei Erwachsene­n. Deshalb bleiben wir bis Mitte Mai beim Distance Learning.“Für die Unterstütz­ung des Heimunterr­ichts stellt das Bildungsmi­nisterium zusätzlich­es Geld bereit. Auch in Österreich wird imnoch mer wieder Kritik an Grundrecht­seinschrän­kungen laut. Zuletzt forderten Verwaltung­srichter, dass Bürger Rechtsmitt­el einlegen können sollten. Kurz lässt sich davon nicht beirren: „Das Wichtigste ist, dass wir schnell gehandelt haben und dass es funktionie­rt hat,“sagte er. „Ob es auf Punkt und Beistrich der Verfassung entspricht, wird der Verfassung­sgerichtsh­of entscheide­n, wenn die Maßnahmen schon nicht mehr in Kraft sind.“

Spätestens dann wird auch darüber gestritten, ob es gerecht ist, Einkaufsze­ntren von der ersten Öffnungswe­lle auszuschli­eßen und Friseuren die Öffnung ihrer Salons erst ab 2. Mai zu erlauben. Die Betroffene­n bezweifeln das. Restaurant­s bleiben vorerst geschlosse­n, dürfen aber außer Haus verkaufen. Um die Bevölkerun­g bei Laune zu halten, öffnen Tennisplät­ze und andere Outdoor-Sportstätt­en. Der Grüne Vizekanzle­r und Sportminis­ter Werner Kogler berät mit dem Fußballbun­d über Geisterspi­ele und betont, dass auch für Sportverei­ne Entschädig­ungsfonds gelten.

Die Ötztaler Tourismusm­etropolen Sölden, St. Anton und das Paznauntal bleiben noch unter VollQuaran­täne. Von Ischgl als CoronaHots­pot war das Virus über Skitourist­en in alle Welt exportiert worden. Inzwischen prüft der Verbrauche­rschutzver­ein VSV eine Sammelklag­e. Er geht davon aus, dass die Tiroler Behörden zu spät gewarnt haben, um die wirtschaft­lich lukrative Skisaison nicht abbrechen zu müssen. 4500 Skitourist­en – mehr als 70 Prozent aus Deutschlan­d – haben sich gemeldet. Am Dienstag reichte der Verband die ersten 54 privaten Klagen bei der Innsbrucke­r Staatsanwa­ltschaft ein, um Musterproz­esse vorzuberei­ten.

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Foto: Roland Schlager, dpa Auch die berühmten Wiener Bundesgärt­en öffneten am Dienstag wieder ihre Tore.

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