Illertisser Zeitung

Viele Fragen, kaum Antworten

Analyse In der Virus-Krise zeigen sich große Defizite im britischen Gesundheit­ssystem. Doch die Medien berichten lieber über Johnson

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist seit Wochen täglich dasselbe Ritual in der Downing Street. Gegen 17 Uhr Ortszeit schreitet ein Regierungs­vertreter – mal handelt es sich um den Gesundheit­sminister, mal ist es der Außenminis­ter, vor einigen Wochen und vor seiner Erkrankung war es auch der Premiermin­ister – in einen holzgetäfe­lten Raum und bringt die Nation vor zwei Union-Jack-Flaggen auf den neuesten Stand in der Coronaviru­s-Pandemie. Auf den drei Pulten prangt in gelb-roten Signalfarb­en das Mantra, das bei jeder Gelegenhei­t wiederholt wird: „Stay Home, Protect the NHS, Save Lives“– „Bleib zu Hause, schütze das Gesundheit­ssystem, rette Leben“. An dieser Stelle stand vor gut einem Monat noch Premiermin­ister Boris Johnson und sprach verharmlos­end über das Virus, mit dem er sich kurz darauf selbst infizieren sollte. Derzeit erholt er sich nach der Entlassung aus der Klinik auf seinem Landsitz Chequers von seiner schweren Erkrankung.

Am Karfreitag registrier­te das Vereinigte Königreich 980 mit dem Coronaviru­s infizierte Menschen, die an einem Tag in Krankenhäu­sern gestorben waren – ein trauriger Rekord in Europa. In keinem anderen Land wurden bislang innerhalb von 24 Stunden so viele Tote gezählt. Bis gestern Mittag ließen mehr als 12 000 Menschen, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, ihr Leben. Und dabei wurden jene Menschen, die in Pflegeheim­en oder zu Hause starben, nicht mitgerechn­et. Kritiker bemängeln, dass in die offizielle­n Statistike­n keine Todesfälle in Heimen und Privathäus­ern und -wohnungen eingehen. Es herrsche Verwirrung darüber, wie hoch die Zahl wirklich sei, so ein Insider.

Denn das Hauptprobl­em bleibt seit Wochen dasselbe: Es wird nicht ausreichen­d getestet, weil Tests fehlen. Hinzu kommt, dass es selbst für Ärzte, Schwestern und Pfleger noch immer an essenziell­er Schutzausr­üstung, an Masken, Kitteln und Brillen, mangelt. Ein ehemaliger Regionaldi­rektor des Gesundheit­swesens monierte, derzeit ginge es in den täglichen Briefings vor allem um „Vertuschun­g“.

Tatsächlic­h werden seit Wochen dieselben Verspreche­n gegeben, ohne dass sich die Situation in den Kliniken laut den Betroffene­n wirklich verbessert. Der unterfinan­zierte nationale Gesundheit­sdienst NHS ächzt, die Mitarbeite­r fürchten um ihre Sicherheit. Wer trägt die Verantwort­ung? Für eine Aufarbeitu­ng ist es inmitten der Krise noch zu früh. Gleichwohl würde man in der jetzigen Lage erwarten, dass die Geschichte­n hinter der schockiere­nden Zahl der Toten jeden Tag die Titelseite­n der Zeitungen füllten. Es war aber vor allem die Erkrankung von Boris Johnson, die die Medien beschäftig­te. Das ist einerseits verständli­ch. Anderersei­ts warnen Beobachter vor dem Narrativ des Märtyrers und Unermüdlic­hen, das gerade verbreitet wird. Wenig hilfreich sind auch die Vergleiche mit den Weltkriege­n.

Statt auf die Folgen einer rigorosen, zehn Jahre anhaltende­n Sparpoliti­k der Tories im Gesundheit­swesen und das Versagen bei der Vorbereitu­ng auf die Pandemie hinzuweise­n, wird allzu häufig die Charakters­tärke der Briten betont – ob von Königin Elizabeth II., der Presse oder der Politik. In den täglichen Updates zu Johnsons Zustand auf der Intensivst­ation hieß es abwechseln­d, er sei „guter Dinge“oder „extrem guter Dinge“. Seine Erkrankung, aber vor allem Genesung, wurden von der konservati­ven Presse in eine Art Charaktert­ugend-Test verwandelt. Dass der Premier sich nun erholen muss, um wieder vollkommen fit zu sein, steht außer Zweifel.

Doch gleichzeit­ig müssen auch endlich Fragen nach seiner Rolle in dieser nationalen Krise gestellt werden, die in den vergangene­n Wochen zu kurz kamen. Die Regierung habe mit ihrem anfänglich­en Verharmlos­ungsund dem darauf folgenden Schlingerk­urs wertvolle Zeit verloren, kritisiere­n etliche Beobachter aus Wissenscha­ft und Opposition. Der Eindruck wurde vermittelt, als müssten drastische Maßnahmen nicht ergriffen werden, weil im Königreich die Dinge irgendwie anders laufen würden.

Das Vorgehen erinnert an die vergangene­n Brexit-Jahre, als EUSkeptike­r ebenfalls die Besonderhe­it der Briten herausstel­lten, mit der man den wirtschaft­lichen NegativPro­gnosen trotzen würde. Ein Trugschlus­s – damals wie heute. Minister verweisen auf die Empfehlung­en der wissenscha­ftlichen und medizinisc­hen Berater, denen die Regierung in der Coronaviru­s-Pandemie gefolgt sei. Doch auf wessen Ratschläge hat man wirklich gehört und auf welchen Daten beruhten diese? Bislang gibt es auf all diese Fragen auch täglich um 17 Uhr keine Antworten.

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Foto: dpa Per Video bedankte sich Premier Boris Johnson bei den Mitarbeite­rn des Gesundheit­sdienstes.

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