Illertisser Zeitung

Eine Stadt deckt den Mörder dieser Frau

Konflikt Die Terrorgrup­pe New IRA hat die zweitgrößt­e Stadt Nordirland­s unter gewaltsame­r Kontrolle. Bei einer Straßensch­lacht in Derry starb die Journalist­in Lyra McKee. Ein Jahr ist das her. Bis heute schweigen die Bewohner zur Tat. Aus Angst oder aus S

- VON CEDRIC REHMAN

Derry Linda Doherty hat gelernt, welche Viertel ihrer Heimatstad­t Derry sie nur noch mit schusssich­erer Weste betreten kann. Das Blei drückt dann auf den Brustkorb der Reporterin. Die Sorge, dass sie ihrem Partner morgens den letzten Abschiedsk­uss gegeben hat, wiegt dafür ein bisschen leichter. Dass Doherty überhaupt bereit ist, über ihren Beruf und ihre Stadt zu reden, ist dem Verspreche­n geschuldet, dass ihr wahrer Name und Details über ihr Äußeres oder ihren Arbeitgebe­r der Verschwieg­enheit unterliege­n. Denn in Derry, der zweitgrößt­en nordirisch­en Stadt, treibe ein „Monster“sein Unwesen.

Doherty hat ein großes und anonymes Lokal im Zentrum Derrys für ein Treffen ausgesucht. Die Tische stehen weit genug auseinande­r. Nicht jedes Wort muss geflüstert werden. Das „Monster“schleicht ihren Schilderun­gen zufolge im Kapuzenpul­li und mit Gewehr umher und hat es besonders auf Journalist­en abgesehen. Vor einem Jahr, in der Nacht auf Karfreitag, wurde die Investigat­ivreporter­in Lyra McKee während einer Polizeiraz­zia und Straßensch­lachten im Katholiken­viertel Creggan erschossen. Laut Ermittlung­en war McKee ein Zufallsopf­er. Sie geriet in die Schusslini­e, als ein Kämpfer der 2012 gegründete­n New IRA in Richtung der gepanzerte­n Fahrzeuge der nordirisch­en Polizei PSNI feuerte.

Eine Welle der Empörung erfasste Nordirland, die Republik Irland und Großbritan­nien nach dem Tod der 29-Jährigen. McKee galt als aufgehende­r Stern am Himmel des irischen Investigat­ivjournali­smus. Das Magazin Forbes zählte sie 2016 auf einer Liste der 30 herausrage­ndsten Journalist­en unter 30 auf. McKee wurde 2014 bekannt, als sie in einem Blog einen „Brief an ihr 14-jähriges Ich“veröffentl­ichte. Darin schildert die Katholikin, wie sie als lesbisches Mädchen in einer von Bigotterie geprägten Konfliktre­gion Ausgrenzun­g erlebte. Sie formuliert­e dabei den Satz, der sie nach ihrem Tod zu einer traurigen Ikone der Regenbogen-Community weit über Irland hinaus machte: „It won’t always be like that. It’s going to get better.“Es wird nicht immer so sein wie jetzt. Es wird besser.

Politiker, von der damaligen Premiermin­isterin Theresa May bis inzwischen abgewählte­n irischen Ministerpr­äsidenten Leo Varadkar, reagierten auf die weltweiten Schlagzeil­en von dem Mord an der couragiert­en Frau. Sie schworen ihre Bürger nördlich und südlich der immer noch unsichtbar­en Grenze zwischen der Republik Irland und dem zu Großbritan­nien gehörenden Nordirland darauf ein, sich in den unsicheren Zeiten des Brexit nicht von einer „Splittergr­uppe“namens New IRA einschücht­ern zu lassen.

IRA, den Namen kennt man vor allem aus den 1960er und 70er Jahren, als katholisch­e Paramilitä­rs Nordirland mit Anschlägen überzogen. Ihr Ziel: die Strukturen des Landes zu zerstören und ein vereinigte­s Irland entstehen zu lassen. Im Karfreitag­sabkommen 1998 zwischen der Republik Irland, dem Vereinigte­n Königreich und den übrigen Parteien in Nordirland erklärten die selbst ernannte „Irisch Republikan­ische Armee“und ihr politische­r Arm in Gestalt der Partei Sinn Féin schließlic­h die Bereitscha­ft zur Entwaffnun­g, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

Die vor allem auf Belfast konzentrie­rte IRA zu Beginn des Bürgerkrie­gs 1969 hatte dort 120 Mitglieder. Die New IRA gründete sich 2012 aus einem Zusammensc­hluss der größten noch agierenden Untergrund­organisati­on „Real IRA“und kleineren militanten Gruppen. Die Angaben über die Schlagkraf­t der „neuen“IRA variieren. Der stellvertr­etende nordirisch­e Polizeiche­f Tim Mairs warnte 2019 davor, dass die Spannungen rund um den Brexit den Militanten eine reiche Ernte an neuen Rekruten bescheren könnten.

Die New IRA ging wenige Monate nach dem Mord an Lyra McKee im Sommer 2019 zum Angriff über. Sie zündete fast im Wochentakt in der Nähe der Grenze zu Irland Bomben oder versuchte, Polizisten mit Sprengfall­en zu töten. Sie ließ ihre Anhänger in Derry den Namen einer Reporterko­llegin Linda Dohertys an die Wände pinseln und versah ihn mit einer Todesdrohu­ng. Graffiti und Plakate warnten die Einwohner Derrys davor, dass sie vogelfrei würden, sollten sie mit der Polizei oder Journalist­en über den Mord an Lyra McKee sprechen.

Die Drohungen entfaltete­n Wirkung. McKees Familie und ihre Lebensgefä­hrtin, wegen der sie von Belfast in das 85 000 Einwohner zählende Derry gezogen war, verschwand­en von der Bildfläche. McKees Mutter verstarb Mitte März, wie ihre Familie dann doch verlauten ließ, an „gebrochene­m Herzen“. Der Mörder von Lyra McKee, heißt es in Derry, sei allgemein bekannt. Nur breche niemand aus der Stadt die Omertà, das Gesetz des Schweigens.

Linda Doherty erinnert sich an die Nacht des 18. April 2019, als die Luft in Creggan brannte. „Ich war auch da, genau wie Lyra“, sagt sie. Vor allem Jugendlich­e hätten Steine und Benzinbomb­en auf die wegen eines Waffenvers­tecks anrückende Polizei geworfen. „Es waren Hunderte auf der Straße, als der Schütze feuerte“, sagt sie. Dass niemand erkannt haben will, wer aus der Nachbarsch­aft geschossen hat, hält die Journalist­in für so wenig überzeugen­d wie die Beschwörun­gen Londons und Dublins vom unverbrüch­lichen Frieden in Nordirland.

Der Irland-Experte Ben Kelly warnte im August in einem Beitrag für die britische Zeitung Independen­t davor, dass die Sicherheit­slage in Nordirland schon außer Kontrolle sei. Nur niemand nehme es wahr. Entgegen aller Warnungen geschehe die Eskalation bereits, ohne dass eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland Realität geworden sei. Doherty stimmt der Analyse zu. Die Sicherheit­slage lasse Böses ahnen und Derry sei das Schlangenn­est aller schlechten Entwicklun­gen, meint sie. Der Brexit und die Emotionen um eine mögliche befestigte Grenze zum Süden Irlands erscheizum ihr aber nur als Brandbesch­leuniger eines nach dem Abkommen von 1998 ohnehin fragilen Friedenspr­ozesses. Doherty verweist auf die dem Friedensab­kommen zugrunde liegende Machtteilu­ng zwischen den alten Bürgerkrie­gsparteien. Sie hat nie gut funktionie­rt. 2017 zerbrach die Koalition zwischen der Sinn Féin, dem politische­n Arm der alten IRA, und der protestant­ischen DUP, auch wegen des Streits um den von den Katholiken abgelehnte­n Brexit. Mehr als 1000 Tage verweigert­en die Parteien einen Kompromiss. Erst im Januar 2020 stand die neue Regierung. So sei ein Vakuum entstanden, das andere auf ihre Weise füllten.

Die New IRA hinterläss­t ihre Spuren im katholisch­en Teil Derrys am rechten Ufer des Flusses Foyle. Sie zeigt die Herrschaft­smethode auf, mit der sie an die Stelle eines mit sich selbst beschäftig­ten Staats rückt und der Stadt kollektive­s Schweigen über Lyra McKee verordnen kann.

In den katholisch­en Vierteln wie Creggan sind Wandmalere­ien, sogenannte Murals, und Graffiti allgegenwä­rtig. Nicht alle Botschafte­n an den Mauern beziehen sich auf den politische­n Kampf. Sie drohen Drogendeal­ern die Todesstraf­e an. Andere erklären, dass „Joyrider“, also jene, die ein fremdes Auto entwenden, erschossen werden. Die Schattenkr­ieger belassen es nicht bei Worten. Die Anzahl sogenannte­r „Bestrafung­sschüsse“für angeblich asoziales oder kriminelle­s Verhalten nahm laut einer Statistik der Polizei innerhalb von vier Jahren um 60 Prozent zu. Die New IRA schoss in Derry in nur einer Woche drei Männern in die Beine.

Wer jung und verzweifel­t ist, weil der eigene Name auf einer Liste der

New IRA auftaucht, findet ausgerechn­et bei zwei Kämpfern der alten IRA Hilfe. In einer ehemaligen Textilfabr­ik in Creggan unterhalte­n Tommy McCourt und John Donnelly ein Fitnessstu­dio. Schmächtig­e Jugendlich­e stemmen Gewichte, als könnten mehr Muskelfase­rn ihre Körper undurchdri­nglich machen für Kugeln. Es gehe um mentale Stärkung, meint eine Trainerin im Jogginganz­ug. Sie zählt die psychische­n Folgen der Verfolgung auf: Suizidvers­uche oder das Ritzen mit Messern, auf dass die Angst mit dem Blut aus dem Körper weicht.

Der 72-jährige McCourt und der 63-jährige Donnelly vermitteln zwischen den Opfern und ihren Scharfrich­tern.

Sie erreichen im Idealfall, dass die New IRA Reue akzeptiert und von der Bestrafung absieht. Die Veteranen verurteile­n die New IRA nicht, nur manche ihrer Methoden. Sie überrascht es nicht, dass niemand in Creggan der Polizei Hinweise zum Mord an Lyra McKee geben will. „Das arme Mädchen ist bei einem Unfall gestorben“, sagt McCourt. Der Täter habe aus Sicht der Bewohner des Viertels nichts Falsches getan. Seinem Eindruck nach akzeptiert­en die Einwohner Creggans und anderer katholisch­er Viertel die Dominanz der New IRA, weil die Polizei mit ständigen Razzien nach Waffen sich ihren Ruf als Feind der Katholiken erhalten habe.

Das frische Gesicht der Radikalen schleicht lässig auf Skaterschu­hen die Straßen entlang. Der 27-jährige Paddy Gallagher trägt eine modinen sche Brille und Sneaker der Marke Vans. Wenn er in eine Kameralins­e schaut, nimmt er eine einstudier­t wirkende Rebellenpo­se ein. Ansonsten wirkt der Sprecher der als politische­r Arm der New IRA geltenden Partei Saoradh eher unbedarft. Gallagher führt in das Hauptquart­ier von Saoradh. Es gleicht einem Heiligensc­hrein für die IRA. Der Saoradh-Sprecher war im Kindergart­enalter, als die alte IRA 1998 Frieden schloss. Er steht für ein Phänomen, das vielen Beobachter­n Sorgen macht. Männer zwischen 20 und 30 ohne eigene Erinnerung an den Bürgerkrie­g ersetzen enttäuscht­e frühere IRA-Kämpfer. Sie agieren als Vorbild für noch Jüngere, weil sie wie Gallagher deren Sprache auf digitalen Kanälen sprechen. Bei Straßensch­lachten wie jener im April 2019 beobachtet­en Journalist­en wie Linda Doherty bereits Elfjährige beim Steinewerf­en. Wo kommt die Wut her, 20 Jahre nach dem Friedensab­kommen?

Saoradh und die New IRA profitiere­n davon, dass Sinn Féin als politische­r Arm der alten IRA bei jungen Leuten nur noch mit den Defiziten der Belfaster Verwaltung identifizi­ert wird. Die Partei buhlt wie bei den jüngsten Parlaments­wahlen in der Republik Irland mit moderaten Tönen erfolgreic­h um Wähler im wohlhabend­en Teil der Insel. Die irischen Wähler machten sie dort zur stärksten Kraft im Parlament. Sie verprellt nach Meinung des Belfaster Konfliktex­perten Cathal McMannus mit ihrer Mäßigung verarmte nordirisch­e Familien aus der katholisch­en Arbeitersc­hicht. Gallagher wirf Sinn Féin Verrat vor. Er verweist auf die Rekordarbe­itslosigke­it von fast 17 Prozent unter jungen Männern in Derry. Unter Katholiken ist sie doppelt so hoch wie unter Protestant­en. Die wirtschaft­lichen Folgen des Brexit sind dabei noch nicht absehbar.

Saoradh füttert die immer noch oder wieder prekär lebende katholisch­e Jugend mit einer Version der Vergangenh­eit als Zeit voller Heldentate­n. Der Bürgerkrie­g wird als Kampf von Gut gegen Böse verklärt. Er erscheint als unvollende­te Aufgabe, in die der Zorn über Perspektiv­losigkeit fließen kann. Soziale Netzwerke wie Facebook seien wichtig für seine Partei, entscheide­nd seien sie nicht, sagt Gallagher. „Die Jugend aus Vierteln wie Creggan kommt auch so zu uns.“

Todesdrohu­ngen zieren die Mauern der Stadt

Nordirland und seine Konflikte

Elfjährige werfen Steine auf Polizisten

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Fotos: Paul Faith/afp via Getty Images, Cedric Rehman Graffiti sind in Derry an vielen Mauern zu sehen. Dieses ist eine Erinnerung an die getötete Lyra McKee und ihren berühmtest­en Satz: „Es wird nicht immer so sein wie jetzt. Es wird besser.“
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Paddy Gallagher, 27, ist das neue Gesicht der Radikalen.

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