Erreicht Schweden als erstes Land Herdenimmunität?
Pandemie Der lockere Kurs der schwedischen Regierung in der Corona-Krise zeigt Wirkung: Einerseits ist die Zahl der Toten verhältnismäßig hoch, andererseits könnten viele Bewohner schon immun sein. Mediziner schlagen dennoch Alarm
Stockholm In Stockholm ist es seit einigen Tagen ähnlich sonnig wie in Berlin, Hamburg oder München. Und doch gibt es einen Unterschied: Am Wochenende waren Straßencafés und Parks in der schwedischen Hauptstadt gut gefüllt mit Besuchern – etwas, von dem man in anderen europäischen Metropolen wie London, Paris und Madrid derzeit nur träumen kann. Trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus genießen die Schweden deutlich mehr Freizügigkeit.
Der schwedische Sonderweg in der Corona-Krise hat in mehreren Ländern Verwirrung ausgelöst. Vielerorts und nicht zuletzt bei den Nachbarn in Dänemark und Norwegen fragt man sich, ob die Schweden wissentlich und offenen Auges in die Katastrophe laufen – oder sich ihre Strategie am Ende auszahlen wird.
Anders als in den anderen skandinavischen Ländern und in weiten Teilen Europas greift die schwedische Regierung nicht mit äußerst strikten Maßnahmen wie der Schließung von Schulen und Restaurants in den Alltag ein. Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind. Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufszentren und Fitnessstudios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.
Dass das soziale Leben – zumindest bei den Jungen – weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronavirus registriert als in den anderen nordischen Ländern, bis Dienstag starben 1765 Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 370 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.
Andererseits könnte Schweden das erste Land sein, das Herdenimmunität erreicht. Das heißt, die Verbreitung des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind – sei es, weil sie die Krankheit überwunden haben oder geimpft wurden. Eine am Dienstag veröffentlichte Studie vom schwedischen Gesundheitsamt weist erstmals darauf hin, dass rund ein Drittel aller Stockholmer, also rund 600 000 Menschen, schon bis zum 1. Mai irgendwann mit dem Coronavirus angesteckt worden sind und dadurch Immunität erlangt haben. Die Studie basiert sowohl auf mathematischen Modellierungen als auch auf 700 zufällig ausgewählten Stockholmern, die getestet wurden. Auch die Zahl der täglichen neuen Erkrankungsfälle spielt in der Berechnung eine Rolle.
Auch eine zweite Studie der Universität Stockholm kommt zum Ergebnis, dass rund 30 Prozent aller Stockholmer bald immun sind, weil sie das Virus schon einmal in sich hatten. Zum Vergleich: In Frankreich, wo eine harte Verbots- und Isolierungsstrategie gilt, werden bis zum 11. Mai voraussichtlich nur sechs Prozent der Bevölkerung schon angesteckt und immun sein. Dies ergab eine am Wochenanfang veröffentlichte französische Studie vom renommierten Institut Pasteur.
Die Sicht, dass der schwedische Sonderweg richtig ist, teilen in dem Land bei weitem nicht alle. Knapp 2000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im CoronaKampf bezahlt, für zu hoch. „Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend“, sagt er. „Die
Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt.“
Dass die Kneipen und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. „Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt.“Dabei würden täglich Hunderte neue Ansteckungen registriert. Lundbäck fordert deshalb die Schließung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. „Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm.“An Staatsepidemiologe Anders Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe.
Unklar ist weiter, wohin der Weg der Schweden führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten – anders als etwa Deutschland oder die Nachbarn in Norwegen – einer zweiten Viruswelle entkommen. Für den Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. „Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität“, sagt er. „Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben.“(mit dpa)