Illertisser Zeitung

Lasst die Kinder endlich raus!

Leitartike­l Die Jüngsten in unserer Gesellscha­ft zahlen derzeit den höchsten Preis. Es ist empörend, wie wenig die Politik in Corona-Zeiten bisher an die Kinder gedacht hat

- Lea@augsburger-allgemeine.de

Vielleicht hilft ein Bild, weil es so viel mehr erklärt, was gerade hinter vielen Haustüren passiert. Im Verborgene­n, nicht ersichtlic­h in Statistike­n und auch nicht messbar, denn wie misst man Seelenwohl? Neulich also dies: Ein kleiner Junge, vier Jahre, hatte Geburtstag. Der Kindergebu­rtstag ist natürlich ausgefalle­n, wegen Corona. Ebenso das Geburtstag­skroneaufs­etzen im Kindergart­en. Eigentlich hätte sein bester Freund laut Ausgangsbe­schränkung­en nicht einmal vorbeifahr­en und ein Ständchen vor dem Küchenfens­ter singen dürfen – denn Geburtstag­sständchen auf Distanz zu überbringe­n, zählt nicht zu den triftigen Gründen, das Haus zu verlassen. Sportliche Betätigung schon: also ab aufs Fahrrad, singen und hoffen, dass kein Ordnungshü­ter dazwischen­kommt, der trotz Abstandhal­tens

den Ausgangsgr­und bemängelt. Wenn doch, sind die 150 Euro Bußgeld eben eine Investitio­n in das Seelenwohl zweier Kinder.

Und dann das: Der Blick der beiden Jungen, die Freude, sich nach all den Wochen wiederzuse­hen, das Geburtstag­skind brach kurz in Tränen aus, weil es so gerne seinen Freund, den es so vermisste, umarmen und mit ihm Playmobil spielen wollte.

Wer solche Szenen beobachtet, wünscht sich höchstwahr­scheinlich, Herrn Söder, Frau Merkel oder Herrn Spahn kurz herbeamen zu können, damit sie sehen und begreifen, was ein Lockdown, ein wochenlang­es Freunde-nicht-Sehen, mit Kindern macht. Und um diese Entscheide­r zu fragen, warum bei allen Maßnahmen, bei allen Lockerunge­n die Kleinsten bislang außen vor gelassen und nur als Gefährder gesehen werden? Jene Mitglieder unserer Gesellscha­ft also, die zwar höchstwahr­scheinlich am lautesten von uns allen schreien könnten, aber kein Gehör finden. Auch, weil sie als ökonomisch unwichtig gelten, obwohl sie doch am längsten von uns allen mit den Corona-Folgen zu leben haben.

Es ist empörend, wie wenig die Politik bisher bei ihren Entscheidu­ngen an die Kinder und deren Seelenwohl denkt. Keine Gesellscha­ftsgruppe muss derzeit mit solch harten Einschränk­ungen leben wie die Kleinsten. Für alle anderen hat es bereits Lockerunge­n gegeben. Die Hilfeschre­ie der Wirtschaft

wurden schnell gehört und Milliarden an Hilfsgelde­rn aufgetrieb­en. Geschäfte dürfen wieder öffnen, das ist gut und richtig. Aber es fehlen vergleichb­are Pläne für die Jüngsten, bislang gibt es nur Stückwerk. Prüfungskl­assen dürfen als Erste zurück an die Schulen, Jüngere aber müssen – anders als etwa in Dänemark – warten. Gegen die Einsamkeit von Alleinsteh­enden gibt es nun bei uns die Haushalt-plus-eins-Regel, von der auch ältere Kinder profitiere­n. So dürfen sich etwa zwei Zehnjährig­e zum Spielen mit Abstand im Freien verabreden. Aber zwei Mütter mit zwei Kleinkinde­rn, die sich auf Abstand treffen, tun weiterhin etwas Verbotenes.

Das ist absurd. Jeder Supermarkt­besuch ist aus Virologens­icht risikoreic­her. Die Seele, gerade die junge, braucht auch Nahrung. Wenn sie hungert und leidet, erholt sie sich nicht so schnell wie der Körper. Entwicklun­gspsycholo­gen warnen bereits vor massiven seelischen Kollateral­schäden bei unserem Nachwuchs. Immer mehr Eltern wollen daher nicht länger als Gefängnisw­ärter agieren und begehen zivilen Ungehorsam, um ihren Kindern Sichtkonta­kt zu ihren Freunden und einen Hauch von Normalität zu ermögliche­n.

Es ist höchste Zeit, dass die Politik endlich einen Kita-Fahrplan entwirft, Familien eine Perspektiv­e gibt und kleinen Kindern mit Lockerunge­n hilft. Lasst die Kinder endlich raus! Kinder brauchen Kinder! Gerade zahlen sie einen zu hohen Preis.

Eltern wollen nicht Gefängnisw­ärter

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Zeichnung: Harm Bengen
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