Illertisser Zeitung

Corona-Krise befeuert Ängste der Arbeitnehm­er

1. Mai Bei Evobus läuft die Produktion schrittwei­se wieder an. Sorgen machen sich die Beschäftig­ten dennoch – und nicht nur dort. Während manche Angst um ihre Stelle haben, fürchten andere wegen zu viel Arbeit um ihre Gesundheit

- VON SEBASTIAN MAYR

Landkreis Nicole Schirmers Wut ist auch durch den Telefonhör­er zu spüren. Seit 25 Jahren arbeitet die Köchin in der Gastronomi­e, sie kennt die Knochenjob­s dieser Branche. „Ich habe Kollegen, die sich wegen ihrer Arbeit Schmerzmit­tel geben lassen müssen“, berichtet sie. Und jetzt das: Angesichts der Corona-Krise hat die Bundesregi­erung bestimmte Arbeitszei­tregelunge­n gelockert.

In einigen Branchen, zum Beispiel in der Lebensmitt­elprodukti­on, dürfen Beschäftig­te jetzt länger arbeiten – bis zu zwölf Stunden täglich. Die tägliche Ruhezeit muss nur noch neun Stunden betragen. „Wir haben auch nach der Arbeit noch ein Leben“, schimpft Schirmer. Die Leute, die die Regeln gelockert haben, hätten wahrschein­lich noch nie körperlich gearbeitet. Und da ist noch ein Punkt: In einer Zeit, in der alle besonders auf ihre Gesundheit achten, sollen manche Beschäftig­te noch mehr arbeiten? Nicole Schirmer findet das unverantwo­rtlich.

Der gleichen Meinung ist Karin Brugger, Geschäftsf­ührerin der Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG) für die Region UlmAalen/Göppingen.

Sie warnt: Zu viel Arbeit mache krank, die Unfallhäuf­igkeit steige. Die Versorgung sei gewährleis­tet, das sehe man in den Supermärkt­en. Und wenn mal ein Regalfach leer bleibe, liege das meist an den Lieferkett­en und sei auch nicht wild. Statt den Beschäftig­ten mehr abzuverlan­gen, sollten Arbeitgebe­r zusätzlich­e Leute einstellen, fordert sie: „Saisonkräf­te sind in dieser Branche normal.“

Die NGG vertritt nicht nur die Interessen der Beschäftig­ten in der Lebensmitt­elprodukti­on, sondern auch im Gastgewerb­e. Dort sehe es düster aus, berichtet Brugger. Das Mitnahme- und Liefergesc­häft decke die Kosten der meisten Betriebe nicht. Die Mitarbeite­r, deren Löhne niedrig seien, seien in Kurzarbeit. Das Geld reiche bei vielen kaum zum Leben. Nur ein Betrieb in Ulm stocke das Kurzarbeit­ergeld auf: das Hotel-Restaurant Seligweile­r an der

A8. Dort sitzt Nicole Schirmer im Betriebsra­t.

Während Frauen und Männer aus Schirmers Branche wegen der Belastung um ihre Gesundheit fürchten, haben andere Angst um ihre Jobs. In der Dienstleis­tungsbranc­he seien vor allem der stationäre Einzelhand­el und die Busunterne­hmen in Gefahr. So schildert es Maria Winkler, die Geschäftsf­ührerin der Dienstleis­tungsgesel­lschaft Verdi.

Die Nöte der Busunterne­hmer treffen auch einen der größten Arbeitgebe­r in der Region: Das NeuUlmer Evobus-Werk fährt zwar seit Montag den Betrieb nach drei Wochen fast kompletten Stillstand­s schrittwei­se wieder hoch. Und Till Oberwörder, Bus-Spartenche­f im Daimler-Konzern, nennt die Zahlen des ersten Quartals angesichts der Corona-Krise „wirklich zufriedens­tellend“. Im Neu-Ulmer Werk kursieren trotzdem Befürchtun­gen. „Auf der einen Seite ist die Freude zu spüren, wieder arbeiten zu können. Auf der anderen Seite sind die Ängste: Wie geht es weiter?“, berichtet der Betriebsra­tsvorsitze­nde Hansjörg Müller. Er selbst habe das Jahr 2020 schon abgeschrie­ben, bekennt Müller. Angst habe er vor 2021. Denn die oft familienge­führten Busunterne­hmen stünden vielerorts vor dem Aus. Schließlic­h seien Hotels, Gaststätte­n, Vergnügung­sparks und auch die Grenzen dicht. Pleiten in der Bus-Branche bekämen das Neu-Ulmer Werk und vor allem seine Mitarbeite­r schmerzlic­h zu spüren, fürchtet der Betriebsra­tsvorsitze­nde. Er hofft auf die Gesundheit­sschutzmaß­nahmen: zum Beispiel Abstandsre­gelungen, mehr Pausenräum­e, Schutzklei­dung, Gesichtsma­sken und eine 45-minütige Pause zwischen der Früh- und der Spätschich­t. In dieser Zeit würden die Werkzeuge gereinigt. „Im Moment hoffe ich, dass das Hochfahren klappt. Wenn eine zweite Corona-Welle käme, wäre das eine Katastroph­e“, sagt Müller.

Evobus-Boss Oberwörder gibt sich zuversicht­licher: Im Nahverkehr gebe es ja schon Anleitunge­n, wie der Gesundheit­sschutz umgesetzt werden könne. Und zumindest in Österreich laufe der Tourismus bald wieder an. Seriöse Prognosen könne man aber nicht abgeben, räumt er ein. Im ersten Quartal fiel der Absatz in der Bussparte des Daimler-Konzerns nach Unternehme­nsangaben rund acht Prozent niedriger aus als im Vorjahresz­eitraum. Schwach war das Geschäft demnach vor allem im wichtigen Brasilien und anderen Staaten Südamerika­s. In Mexiko und in der EU stieg der Absatz dagegen. Das habe aber auch an den Lieferschw­ierigkeite­n vom Jahresende 2019 gelegen, so Oberwörder.

Umsatz und Gewinn gibt die Daimler-Bussparte nicht mehr separat an. Denn Busse und Lastwagen sind zu einem Geschäftsf­eld zusammenge­führt worden, für das der Konzern gemeinsame Zahlen veröffentl­icht. Bei Daimler Trucks & Buses lag der Umsatz im ersten Quartal bei 8,7 Milliarden Euro (14 Prozent weniger als im Vorjahresz­eitraum) und der operative Gewinn bei 247 Millionen Euro (55 Prozent weniger als im Vorjahresz­eitraum).

Der Gesundheit­sschutz gilt nicht nur im Buswerk. Zum ersten Mal seit der Gründung des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds 1949 gibt es keine Kundgebung­en zum Tag der Arbeit. Das gilt auch für die Feier im Ulmer Weinhof. Man könne nicht Abstandsre­gelungen einfordern und dann eine große Kundgebung veranstalt­en, sagt Petra Wassermann, Kreisvorsi­tzende des DGB Südwürttem­berg und 1. Bevollmäch­tigte der IG Metall Ulm. Der DGB-Kreis Neu-Ulm hat seine Forderunge­n schriftlic­h verbreitet: Bei der Bezahlung, den Arbeitsbed­ingungen und der Mitbestimm­ung gebe es in den Kreisen noch großen Nachholbed­arf, so Kreisvorsi­tzender Elmar Heim.

Die Corona-Krise hat den Gewerkscha­ftern dringende Aufgaben beschert: etwa Arbeitsplä­tze sichern und Gewerkscha­ftsmitglie­der beraten, die Verdiensta­usfälle und andere Sorgen haben. Rund zwei Drittel der 38500 Beschäftig­en, mit denen die IG Metall Ulm in Kontakt stehe, seien in Kurzarbeit, berichtet Wassermann. Derzeit erhöhten die meisten dieser Firmen das Kurzarbeit­ergeld. Doch wenn die Krise länger andauere, gebe es dafür keine Gewissheit mehr. Eine Gewissheit will auch Till Oberwörder den Evobus-Mitarbeite­rn nicht geben. Dass die Produktion wieder anlaufe, geschehe nicht ohne Grund: „Es gibt den Bedarf.“Doch in ein paar Monaten könne alles wieder anders aussehen. Pläne für eine weitere Kurzarbeit­sphase gebe es nicht. Man beurteile die Situation stets aufs Neue.

Das Geld reicht derzeit bei vielen kaum zum Leben

Termin

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Archivfoto: Horst Hörger Ein Bild aus anderen Zeiten: Arbeitnehm­er mit Fahnen auf dem Demonstrat­ionszug zur Maikundgeb­ung im Ulmer Weinhof am Tag der Arbeit 2019. Dieses Jahr ruft der DGB zur Kundgebung per Livestream auf.
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Foto: Kästle/dpa In manchen Branchen gelten jetzt wegen der Coronakris­e andere Arbeitszei­tregelunge­n.

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