Die Katastrophe, die nie vergeht
Prozess 21 Menschen starben vor zehn Jahren bei der Loveparade. Doch die gerichtliche Aufarbeitung der Tragödie steht vor dem Aus. Überlebende sind entsetzt und können nicht vergessen
Duisburg Am Montag könnte der Prozess, der die Tragödie der Loveparade vor zehn Jahren aufarbeiten soll, eine entscheidende Wende nehmen: Das Landgericht Duisburg will dann verkünden, ob das Verfahren wegen der Corona-Krise und drohender Verjährung eingestellt wird. Damit würde ein spektakulärer Prozess enden, ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen wird.
Auch nach fast zehn Jahren leiden viele Betroffene unter den schrecklichen Szenen, die sie bei der Loveparade in Duisburg erleben mussten. Unter denen, die mit viel Glück damals mit dem Leben davongekommen sind, ist eine junge Frau, die im Landkreis Donau-Ries wohnt. Eine posttraumatische Belastungsstörung hatten ihr die Mediziner bescheinigt. Jetzt könnte mit der Einstellung des Rekordverfahrens, das bereits Millionen Euro gekostet hat, eine weitere Belastung für sie und die anderen Überlebenden hinzukommen. Auch deshalb will sie ihren Namen nicht mehr öffentlich nennen. Ihr Anwalt Manuel Reiger jedoch spricht. Er ist überzeugt davon, dass der Prozess weitergehen könnte und mit einem Urteil enden sollte.
Rückblende: Die junge Frau, die in Nördlingen geboren wurde, lebt 2010 in Köln. Mit einer Freundin besucht sie die Techno-Großveranstaltung Loveparade in Duisburg. Statt eines vergnügten Nachmittags, wie es sich die beiden vorgestellt hatten, erleben sie den reinen Horror. An einer Zugangsstelle zum Festgelände bricht eine Massenpanik aus, weil es wegen möglicherweise fehlgeleiteter Besucherströme und Planungsfehlern ein Gedränge unter den Besuchern gibt. Ein Gut
kommt in seinen schriftlichen Darlegungen später jedenfalls zu dem Schluss, dass die Planung an vielen Stellen mangelhaft und das Unglück in ihr angelegt gewesen sei. 21 Menschen mussten sterben, Hunderte trugen physische und psychische Verletzungen davon. Mindestens sechs Überlebende haben nach Angaben des Selbsthilfevereins LoPa 2010 später Suizid begangen.
Die Überlebenden müssen seit 2010 mit ansehen, wie die Justiz mit den Folgen der Loveparade umgeht – katastrophal aus ihrer Sicht. Nach fast sechsjähriger Ermittlungszeit lehnt das Landgericht Duisburg die
Anklage ab, die die Staatsanwaltschaft gegen sechs Mitarbeiter der Stadt und vier des Veranstalters vorgelegt hat. Begründung: kein hinreichender Tatverdacht. Das Gutachten des Sachverständigen sei nicht verwertbar, das Hauptverfahren könne folglich nicht eröffnet werden.
Das Oberlandesgericht Düsseldorf entscheidet dann 2017, dass das Strafverfahren gegen die zehn Beschuldigten wegen fahrlässiger Tötung wieder aufgenommen werden muss. Verhandelt wird im eigens angemieteten Düsseldorfer Kongresszentrum, in dem 450 Plätze zur Verfügung stehen.
Ein neuer Gutachter, Professor Jürgen Gerlach, kommt zu dem Ergebnis, das Unglück hätte bereits in der Planungsphase verhindert werden können. Man hätte erkennen können, dass das Veranstaltungsgelände die erwarteten Besuchermassen nicht aufnehmen kann. Das Verfahren gegen sechs Bedienstete der Stadt Duisburg und einen Mitarbeiter des Veranstalters wird Anfang 2019 ohne Auflagen eingestellt. Die verbliebenen drei Angeklagten lehnen eine Einstellung gegen Geldauflage ab, weil sie auf einen Freispruch hoffen.
Inzwischen sind mehr als 180 Verhandlungstage ins Land gegangen; im Juli droht die Verjährung. Zuvor schon ist die Corona-Pandemie dazu gekommen. Weil in dem fensterlosen, klimatisierten Sitzungssaal bei insgesamt 96 Prozessbeteiligten oft um die 60 Personen über einen langen Zeitraum anwesend sind, sieht das Gericht Gesundheitsgefahren. Einige Angeklagte sowie Schöffen und Ergänzungsschöffen gehören demnach zu Risikogruppen. „Mehrere Personen weisen zudem weitere Risikofaktoren für einen schweren oder tödlichen Verlauf im Falle einer Ansteckung auf“, sagt Thomas Sevenheck, Sprecher des Landgerichts Duisburg. Verfahrensbeteiligte reisten aus verschiedenen Bundesländern an, einige aus dem Ausland.
Anwalt Manuel Reiger meint, dass die Pandemie nicht als ein Feigenblatt dafür genommen werden dürfe, das Verfahren einzustellen. Zum einen habe das Gericht selbst festgestellt, dass sich die coronabedingte Situation verbessere und deswegen die Fortsetzung der Hauptverhandlung an diesem Montag beschlossen. Sie könnte aber auch fortgeführt werden, wenn Hygiene- und Abstandsmaßnahmen ergriffen und die Sicherheit der Beteiligten gewährleistet würden. Dass dies möglich sei, bewiesen andere Großverfahren wie das am Oberlandesgericht Koblenz gegen zwei Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes.
Im Übrigen, argumentiert Reiger, würde die fahrlässige Körperverletachter zung an seiner Mandantin erst im Juli 2023 verjähren. Genug Zeit für das Gericht also, in diesem Fall zu einem Urteil zu gelangen. Dies umso mehr, als auch die Kammer selbst schon zu der Einschätzung gekommen sei, dass den Angeklagten die Taten durchaus nachgewiesen werden könnten.
Reiger erinnert die Richter ebenfalls daran, dass viele Nebenkläger bei der Duisburger Katastrophe Angehörige verloren hätten – und sie, wie seine Mandantin, nach wie vor unter den schrecklichen Szenen von damals litten. Das Gericht habe eine Verantwortung für die Überlebenden, die mit einer Einstellung des Verfahrens nur schwer weiterleben könnten. Dagegen falle das Argument nicht ins Gewicht, dass für die Angeklagten die vergangenen zehn Jahre eine Belastung gewesen seien – dies umso weniger, als sie in dieser Zeit nicht den Hauch einer Einsicht in eigenes Fehlverhalten gezeigt hätten. Vielmehr sprächen sie sich von Schuld frei und leugneten ihre Beteiligung an der Katastrophe, so Reiger.
Er wählt im Gespräch mit unserer Redaktion folgenden Vergleich: Wegen einer alltäglichen Beleidigung werde man vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch bei einer Beteiligung an einer Katastrophe mit 21 Toten und mehreren hundert Verletzten soll das Verfahren eingestellt werden? Ungerecht sei auch, dass seiner Mandantin durch die Teilnahme am Verfahren Kosten entstehen, während die Staatskasse für die Kosten der Angeklagten voll aufkommen solle. Sollte das Gericht am Montag die Einstellung des Verfahrens verkünden, werden die Betroffenen dies hinnehmen müssen: Weitere Einspruchsmöglichkeiten haben sie nicht.
Eine Frau aus Nördlingen erlebte Schreckliches