Unbeschreibliche Armut. Für uns Kinder gab es noch Schlimmeres!
Ludwig Schenkreis, Wittislingen
Mit meiner Mutter und einer Verwandten fuhren wir mit einem kleinen Handwägelchen in den Wald, um Holz zu sammeln. Stundenlang dröhnten unaufhaltsam Bombergeschwader über uns, mit besorgniserregendem Fluglärm. Am nächsten Tag erfuhren wir im Volksempfänger, dass Dresden grausam bombardiert worden war. Meine Eltern erschraken, weil Frau und Kind meines ältesten Bruders dort lebten. Er selbst weilte als Soldat an der Front.
Nach zwei Tagen traf die freudige Nachricht persönlich ein: Meine Schwägerin kam mit ihrem Kind und einigen Verwandten und bat um Unterschlupf. Was sie am Leib trugen, war ihr ganzes Hab und Gut, das sie hatten retten können.
Unser kleines Häuschen wurde zur Bleibe von insgesamt elf Personen. Strohsäcke, Notliegen und Matratzen wurden zusammengesucht und aufgestellt. Eine Wohnung ohne Bad, Toilette, Heizung, Abwasser und Keller. Das nette Klo-Häuschen hinter dem Haus war für die Großstädter eine Zumutung. Die Verpflegung war ein echter Notstand. Die Hühner hätten schon zweimal am Tag legen müssen, um alle Mäuler füttern zu können. Der Garten war auch zu klein. Die Not bestimmte das triste
Leben. Das tägliche Brot hat nie gereicht. Als Letzter von elf Kindern musste ich täglich erfahren, was Überleben bedeutet. Auch der zweitälteste erwachsene Bruder war an der Front. Der Vater in der Munitionsfabrik beschäftigt. Täglich wurde der Postbote erwartet, er war begehrt und gefürchtet. Die Feldpost konnte immer auch das Schlimmste bedeuten.
Trotz unbeschreiblicher Armut gab es für uns Kinder doch noch Schlimmeres zu erleben. „Kriegsgefangenschaft!“Auf dem Sportplatz waren über tausend Gefangene eingesperrt. Wasser gab es von dem Flüsschen Egau, aber zu essen nicht das Nötigste! Faule Äpfel, rohe Kartoffeln, ja sogar Kuh-Rüben warfen wir über den Zaun. Die abgemagerten Gestalten stürzten sich auch auf das Viehfutter, um einen Bissen zu erhaschen. Von den Eltern wurden unsere Fragen so beantwortet: „Das sind unverschämte Feinde, welche deutsche Soldaten erschossen haben.“Wir konnten das nicht verstehen und haben die Ärmsten weiter gefüttert. Schon das halb ausgereifte Kinderhirn begann zu überlegen: „Geht es deinen Brüdern in Russland auch so?“
Dann kam ein unvergessliches, erschütterndes Erlebnis meiner Kriegskindheit. Von den Gefangenen wurde einer auf der angeblichen Flucht erschossen. Ein Mitbürger, der täglich mit „Heil Hitler“-Rufen am Haus vorbeirannte, nahm die Bestattung vor. Der Tote wurde aus einem Papiersack gerollt, er war nackt. Mit den Füßen hat ihn der Mann in ein Loch im äußersten Eck des Friedhofes gestoßen und als „Russenschwein“beschimpft. Mit einem Schubkarren voll Dreck und Steinen wurde das Loch verfüllt. Das war’s. So wertlos ist der Mensch als Held in fremden Händen. Verstehe die Welt, wer will, ich war schon als Kind total überfordert.
Mein 20 Jahre älterer Bruder war, bedingt durch die ärmlichen Verhältnisse, stolz und ergeben in die „SS“eingetreten. Kurz vor Kriegsende kam er auf Urlaub und sah erstmals seine Frau und das Kind wieder. Auf der Heimreise hatte er erkannt, dass das Kriegsende unmittelbar bevorsteht. Er sagte: „Ich gehe nicht mehr zurück an die Front!“
Bald war klar, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die deutschen Soldaten zogen sich zurück. Am nächsten Tag rückten die Amerikaner mit Panzern, Panzerspähwagen, Jeeps und Truppen ein. Kurz darauf kam die Nachricht von der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Der versteckte Bruder war somit nicht mehr fahnenflüchtig, sondern auf der Flucht vor den Alliierten. Als der Geburtstag der Schwägerin dürftig gefeiert wurde, kam er plötzlich zur Tür herein. Alle erschraken. Er beruhigte mit den Worten, „mich hat niemand gesehen“. Das Ehepaar zog sich zurück. Die Familie unterhielt sich aufgeregt über das lang ersehnte Kriegsende. Da wurde es urplötzlich erschreckend laut und spürbar unheimlich. Wir gingen vor die Tür: „Schau Mama“, rief ich, „so viele Panzer, Fahrzeuge und schwarze Soldaten, das ist toll“. Die Mutter sagte nur: „Zum Glück verstehst du das Ganze noch nicht, ich gehe zum Nachbarn, die Amis werden deinen Bruder erschießen, das kann ich nicht mit ansehen.“Sie rannte ungestüm davon.
Das Haus war umstellt. Alle Soldaten hatten ihre Waffen im Anschlag. Ich zitterte. Ein Offizier fragte Vater: „Wo SS?“Dieser rief: „Georg, komm runter.“Nach etwa einer Minute kam mein Bruder mit erhobenen Händen. Er wurde zu einem Jeep gebracht und wie eine Trophäe auf den Kühler gesetzt. Der Lärm verhallte. Meine Schwägerin weinte bitterlich auf dem Sofa. Erst nach einem Jahr gab es ein Lebenszeichen. Nach drei Jahren kam er von Kornwestheim aus der Kriegsgefangenschaft schwer abgemagert als freier Mann zurück.