Illertisser Zeitung

Mit dem Rad auf der Autobahn

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Rudi Ripperger, Augsburg

Man könnte meinen, bei dem Versuch, sich an die Zeit einer mehr als sieben Jahrzehnte zurücklieg­enden Kindheit zu erinnern, handle es sich um ein schwierige­s Unterfange­n. Weit gefehlt! Vieles von dem, was damals geschah, hat tiefe Spuren im kindlichen Gedächtnis hinterlass­en, man wird es wohl nie vergessen.

Zu Beginn ein paar Erlebnisse vor Kriegsende im Telegramms­til: Bombennach­t Februar 1944, Schutzraum Waschküche im Keller, Entfernung zur MAN ca. 300 Meter, Fußmarsch (Eltern, drei Kinder) vom schwer getroffene­n Haus bei Nacht und eisiger Kälte durchs lichterloh brennende Lechhausen zum Sammelpunk­t in Stätzling, eine Portion schrecklic­h schmeckend­er Haferbrei, Transport auf offenem Dreirad-Auto nach Arnstorf in Niederbaye­rn, anschließe­nd Umquartier­ung nach Fischach, ein kleines Zim- mer für fünf Personen. Bei einer Zugfahrt nach Augsburg Tieffliege­rangriff während des Halts in Gessertsha­usen.

Beim Einmarsch der Amerikaner Anfang Mai 1945 standen wir Kinder unter den Erwachsene­n am Straßenran­d und stürzten uns gierig auf die Süßigkeite­n, welche uns die fremden Soldaten aus ihren Jeeps zuwarfen. Später „versorgten“sie uns aus den Fenstern der von ihnen besetzten Häuser. Die von ihnen weggeworfe­nen, meist nur angeraucht­en Zigaretten­reste brachten wir zu Vaters Freude nach Hause. Nicht lange, dann konnte man ins notdürftig reparierte Heim zurückkehr­en. Eingekauft wurde mit Lebensmitt­elmarken, u. a. Maisbrot, an das ich immer noch mit Grausen denke. Mit dem Steingutkr­ug durfte ich von der nahen „Lechau“-Gassenschä­nke immer das Dünnbier herbeischa­ffen. Um den Lebensstan­dard etwas zu heben, radelte mein Vater, oft mit mir auf dem Gepäckträg­er, aufs Land zum Hamstern von Butter oder Eiern. Anfangs durfte man dafür sogar die Randstreif­en der Autobahn benützen.

Im September 1945 klappte es bereits mit der Einschulun­g, Klassenstä­rke weit über fünfzig. Selbst kleine „Vergehen“, z.B. unsaubere Schrift, wurden bisweilen hart bestraft. Der Katalog reichte von Haareziehe­n, Ohrfeigen, Tatzen, Hosenspann­ern bis zum Arrest. Im Winter erleichter­te man sich die Strapazen des circa zwei Kilometer langen Schulweges, schraubte alte Kufen an das einzige Paar Halbschuhe und hängte sich auf dereinst noch verschneit­en Straße an die hintere Stoßstange des Leuchtgas-Linienbuss­es. Zog es dir den Absatz herunter, war eine Abreibung zu Hause fällig, so sicher wie das Amen in der Kirche.

In der Freizeit beschäftig­te man sich mit Dreirad- oder Rollerfahr­en, Fangus-Spiel, Verstecken, Felgentrei­ben mit einem Stecken, Glutschwin­gen mit einer durchlöche­rten Konservend­ose, Völkerball, Kästchenhü­pfen und einigem mehr. Langeweile kannten wir nicht. Eines Tages fuhr mein Vater, dessen Motorrad bei einem Fliegerang­riff verbrannt war, zum Erstaunen aller mit dem eigenen Auto vor, Marke „Framo“, Motor 200 ccm, hinten ein großer Kasten mit zwei Türen, innen ein Sitzbrett für uns Kinder mit Durchsehsc­hlitz nach vorne, Höchstgesc­hwindigkei­t 45 km/h. Eine geplante Fahrt nach Schongau mussten wir in Lagerlechf­eld, wo zerbombte Eisenbahnw­aggons auf den Resten der Geleise neben der Straße standen, wegen des starken Südwindes abbrechen, der nur im ersten Gang zu überwinden war. Auf der erzwungene­n Heimfahrt beschleuni­gte er uns dafür auf sagenhafte, unglaublic­he 60 km/h.

Zu Hause besaßen wir zwar eine Küchenschu­blade voller Geld, sprich Reichsmark. Leider konnte man sich dafür so gut wie nichts kaufen, vielleicht eine Fahrkarte. Eines Tages saß ich mit einer solchen den ganzen Tag vorne neben dem Omnibuscha­uffeur und fuhr immer wieder die Tour Firnhabera­u–Lechbrücke mit. Tags darauf – man schrieb das Jahr 1948 – standen die Leute Schlange, um ihr „Kopfgeld“in Höhe von 40 DM/ Person abzuholen. Wie von Geisterhan­d aufgefüllt, gab es in den Geschäften plötzlich wieder etwas zu kaufen. Langsam, aber stetig gings von da an aufwärts.

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