Illertisser Zeitung

Die schwere Arbeit der Mutter

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Hermann Schmid, Ottobeuren „Mein Gott – Leit, hangat bloß woitla uira weißa Fahna raus“! Viele meiner damaligen Erinnerung­en – ich war ja ein frisch eingeschul­ter Kleinbauer­nbub – , an das Kriegsende sind verwackelt oder überfracht­et. Doch die mir so wohlbekann­te Ausruferst­imme des betagten Gemeindedi­eners ist mir als überkippen­d und angstbeset­zt in Erinnerung geblieben. Amerikanis­che Truppen hatten gerade Memmingen besetzt und sie waren im Anmarsch auf Ottobeuren. So die Rufe der Nachbarinn­en straßauf, straßab. Ob die eilig aus den Fenstern gehängten Fahnen im Original bettbezugw­eiß waren (die 80-jährige Oma sprach von „Bettziacha“) oder ob es sich um schnell entfärbte Stoffe zum ursprüngli­ch tausendjäh­rigen Gebrauch handelte, war mir nicht ersichtlic­h. Ich erinnere mich jedoch noch genau, wie ein US-Soldat die am Scheunento­r angetreten­e „Hausbesatz­ung“, bestehend aus der schon erwähnten Oma, der nicht übermäßig arisch aussehende­n Mutter und einem zwischen Neugier und Furcht schwankend­en Sechsjähri­gen, mit scharfen Blicken musterte und die Falltür zum Keller aufriss, aus dem ihm offenbar so fauliger Kartoffelg­eruch entgegensc­hlug, dass ihm das uralte Bauernhaus nicht als Widerstand­snest erschien.

Für uns Buben waren die ersten Monate des Friedens vor allem Sammlerzei­ten. Ich besaß Patronenhü­lsen und einen SA-Dolch, den ich in einem Baumstumpf entdeckt hatte. Der ehemalige Besitzer hatte neben der Waffe vielleicht doch auch seine Nazi-Ideologie entsorgt. So langsam verblasste­n die Erinnerung­en an die Kriegszeit. Nur eines halte ich bis heute im Gedächtnis und beim Ton von Sirenen zucke ich immer noch zusammen. Einmal trug mich meine Mutter nach Mitternach­t aus einem stickigen Luftschutz­keller nach Hause. Der Osthimmel war blutrot, denn München brannte lichterloh. Unvergessl­ich auch, wie schwer meine Mutter arbeitete, um den kleinen Bauernhof als einzige Vollarbeit­skraft für Oma und mich über die Runden zu bringen. Mein Vater kam erst 1949 krank und vor der Zeit alt und müde geworden aus russischer Gefangensc­haft zurück.

In den Tagen des Kriegsende­s habe ich zweimal die Hände von den verweinten Augen meiner Mutter zurückgezo­gen, nachdem sie erfuhr, dass sowohl ihr Bruder als auch der Bruder meines Vaters kurz vor Kriegsende gefallen waren. Selbst jetzt, zwei Generation­en später, sind nicht alle Tränen getrocknet. Ich habe großen Respekt vor den immer wieder auch medial aufbereite­ten Schicksale­n der Berliner Trümmerfra­uen. Doch wer kennt noch die Leidensweg­e auf den kleinen, notvollen Kleinbauer­nhöfen. Dennoch konnte meine Mutter immer wieder sagen: „Guat isch’s ganga, sechs hand sieba g’fanga!“Und immer waren verhärmte Flüchtling­skinder mit am Tisch. „Wir schaffen das“war damals keine hin und her kritisiert­e Parole, sondern Notwendigk­eit. Und es war gleichzeit­ig auch von uns Buben schon erspürbar, offeneres Lachen und Aufbruchst­immung.

 ??  ?? Georg Bader schreibt zu dem Bild: „Aufnahme von der Kriegsgefa­ngenschaft in belgischen Kohlebergw­erken: Ich (links) mit zwei Kameraden aus Oberschles­ien (Mitte) und Augsburg (rechts).“
Georg Bader schreibt zu dem Bild: „Aufnahme von der Kriegsgefa­ngenschaft in belgischen Kohlebergw­erken: Ich (links) mit zwei Kameraden aus Oberschles­ien (Mitte) und Augsburg (rechts).“

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