Illertisser Zeitung

Dr Krieg isch aus

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Karl B. Thoma, Thannhause­n

Wie angeordnet und bekannt, mussten überall in allen Städten und Ortschafte­n zum 1. Mai, dem „großen National-Feiertag“der NSDAP, aus allen Häusern zur Hauptstraß­e hin die Hakenkreuz­fahnen hängen. So auch in Thannhause­n. Der Ortsaufseh­er, von den Leuten der „Folde“genannt, fuhr morgens mit dem Fahrrad die damals benannte Adolf-Hitler-Straße auf und ab, um zu kontrollie­ren, ob wirklich alle Anwohner dieser Straße dieses etwa zwei mal drei Meter große Tuch zum Aushang gebracht haben. Der „Folde“fuhr auch mittags und nochmals abends die ganze Strecke ab, um zu sehen, ob nicht die einen oder anderen verdächtig­en Hausbewohn­er die Fahne mit dem aufgenähte­n Nazi-Symbol zu früh eingezogen haben.

Aber schon am Morgen hatte unsere Mutter Mathilde zur Wohnungsmi­eterin im ersten Stock beim Anbinden der Fahnenstan­ge gesagt: „Hoffentlic­h ist dies heuer das letzte Mal.“„Oh, pst!“, sagte Frau Sp.: „Wenn dies jemand hört, sind wir dran.“Es war am 1. Mai 1945. Mein älterer Bruder, damals schon fast sieben Jahre alt und zwei Jahre älter als ich, hatte sogleich gefragt: „Mama, was heißt das? Sind wir dran?“Unsere Mutter, klug wie immer, meinte: „Ach, vielleicht beginnt nach dem Pfingstfes­t doch wieder der Schulunter­richt, dann können wir wieder überall auf der Straße laufen.“

Es stimmte also, denn zum 1. Mai 1946 musste man keine Hitlerfahn­e mehr hinaushäng­en. Ein Nachbarsbu­b mit etwa zehn Jahren kletterte auf einen Ahornbaum am Straßenran­d und rief auf gut Schwäbisch: „Leutla, horchat: Dr Krieg isch aus, dr Krieg isch aus! Dr Hitler isch verreckt! Hurra! Hurra!“Dann kletterte er sofort noch auf drei andere Bäume an der Adolf-Hitler-Straße und schrie das Gleiche voller Übermut und Freude, gefolgt von einer jubelnden Kinderscha­r. Vor dem Haus des „Folde“haben wir alle besonders gejubelt, aber von ihm war nichts mehr zu sehen.

Nun fuhren aber immer noch die „Amerikaner“tage- und nächtelang in endlosen Panzer- und Lastwagen-Kolonnen

unsere Straße hinunter und bezogen Station in zwei Hotels und in anderen Gaststätte­n. Manche Kinder haben den „AmiSoldate­n“zugewunken, obwohl wir alle noch große Angst hatten. Denn wie oft mussten wir 1944 und 1945 bei Fliegerala­rm meist mitten in der Nacht aus den Betten und in den Keller, wo wir viel gefroren und geweint hatten. Das Dröhnen und Röhren der näher kommenden Fliegerbom­ber hatten wir noch lange Zeit in den Ohren. Erst als wir einige Wochen später viele „Ami-Soldaten“auf dem Sportplatz Baseball spielen sahen, waren wir uns sicher: Diese werden uns nicht mehr erschießen. Als einige an uns Kinder Kaugummi verteilt hatten, wussten wir nicht gleich, was das ist und ob man das einfach so essen kann. Aber ein Soldat nahm auch einen Kaugummi in den Mund und machte es uns vor. Als wir nach Hause kamen, erzählten wir davon der Mama. Sie wollte aber den anderen Kaugummi nicht haben. Deshalb sagte ich: „Den geben wir dem Papa, wenn der vom Krieg heimkommt.“Aber dies sollte noch längere Zeit dauern. Er war ja noch lange in amerikanis­cher Gefangensc­haft. Aber dies wussten wir Kinder im Frühjahr 1945 noch nicht. Die Mama hatte aber oft Tränen in den Augen. Sie sprach sehr oft mit der Frau Sp. vom ersten Stock. Aber immer nur ganz leise. Zu uns Kindern sagte sie nur: „Wir müssen noch warten.“

Als unsere Mutter einmal mit einer anderen Nachbarin an der Nähmaschin­e saß, konnten mein Bruder und ich sehen, wie die beiden Frauen das Hakenkreuz aus dem großen weißen Leinentuch herausgetr­ennt haben. Die Nachbarin sagte: „Ich habe mein Hitlerfahn­entuch schon ganz heftig gewaschen, damit der böse Nazi-Geist verschwind­et, sonst kann ich in dem Bett gar nicht mehr gut schlafen. Und aus dem Stoff vom Hakenkreuz habe ich Einlagen für die Hausschuhe gemacht. Auf diese Weise können wir diese schlimme Vergangenh­eit zertreten.“Und wie Kinder so sind, machten wir Hüpfer und stampften mit den Füßen auf den Boden. Aber voll verstanden hatten wir das alles noch nicht.

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