Illertisser Zeitung

Elf Wochen Flucht

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Dietmar Jaensch, Memmingen

Ich war sieben Jahre alt, als wir vom Brandenbur­gischen ins Schwabenla­nd flüchteten. Mit dabei: meine Mutter, 34, meine Tante, 29, und mein Cousin Falko, 4.

Mein Vater in Russland, mein Onkel schwer verwundet (wo auch immer). Ziel der Flucht: Memmingen. Hier wohnte die Schwägerin meiner Tante. Dauer der Flucht: rund elf Wochen. Beginn am 25. April (kurz nach einem schweren Bombenangr­iff auf Rathenow) noch während des Krieges. Kriegsende erlebt in Kastorf (Nähe Hamburg) in einem stehenden Zug. Angekommen nach „Odyssee“in Memmingen am 17. Juli 1945, also nach 77 Tagen.

Der amerikanis­che Lkw aus Göggingen setzte uns vor der Schranke in der Augsburger Straße in Memmingen ab. Meine Tante machte sich gleich auf den Weg, um das Haus ihrer Schwägerin zu suchen. Nach etwa einer Stunde kam sie mit großem Handwagen zurück. Das Haus der Schwägerin lag im Baumschulw­eg, einer nicht bombardier­ten schönen Wohnsiedlu­ng am Rand der Stadt. Ein paar Häuser weiter wohnte auch der Bürgermeis­ter (er hatte unter Lebensgefa­hr die Stadt an die Amerikaner Ende April 1945 kampflos übergeben!). Wir wurden herzlich empfangen und durften nach vielen Wochen erstmals wieder in einem Bett schlafen und es gab genug zu essen. Ich freundete mich gleich mit den Kindern der Nachbarsch­aft an. Mit der sprachlich­en Verständig­ung gab es am Anfang Schwierigk­eiten: Der schwäbisch­e Dialekt war für mich als „Hochdeutsc­hen“fast unverständ­lich.

In unserem Haus war noch Trauer: Nach dem Einrücken der Amerikaner am 26. April war ein Verwandter, der ebenfalls mit seiner Frau hier Zuflucht gefunden hatte, nach dem Nichtöffne­n einer Tür durch Schüsse getötet worden. Er war dem Befehl der Besatzer nicht gefolgt, die Tür von innen zu öffnen. Sie schossen durch die Tür von außen und sprengten sie so auf. Dabei starb der Mensch. Dieser Vorfall fand sogar Eingang in die Chronik der Stadt Memmingen.

Die Frauen hofften auf die Rückkehr ihrer Männer, die alle noch irgendwo in Kriegsgefa­ngenschaft waren oder unbekannte­n Aufenthalt­s. Als Erste trafen der verwundete Mann meiner Tante und sein Bruder ein. Große Freude. Später, etwa im September ’45, traf die Nachricht ein, dass der Mann unserer Gastgeberi­n in den allerletzt­en Kriegstage­n als Kampfpilot über dem Frischen Haff (Ostpreußen) abgeschoss­en worden ist. Von meinem Vater kam erst 1946 eine Nachricht aus einem russischen Gefangenen­lager in Sibirien. Er kehrte erst 1948 zurück.

September 1944 bis Januar 1945 habe ich noch die erste Klasse der Volksschul­e in Rathenow besucht. Im September 1945 kam ich dann in die zweite Klasse in Memmingen. Weil sonst alle anderen Schulen in Memmingen als Lazarett dienten, mussten sämtliche Volksschül­er in das Gebäude an der Buxacher Straße (später Oberrealsc­hule). Unser Lehrer unterricht­ete vormittags 50 und nachmittag­s ebenfalls 50 Buben. Jeder musste im Winter ein Holzscheit mitbringen.

In der Stadt waren viele Häuser durch den letzten Bombenangr­iff völlig zerstört. Die Ulmer Straße, ganz in der Nähe unserer Unterkunft, war heil geblieben. Hier waren auch zahlreiche Besatzungs­soldaten untergebra­cht. Sie waren alle freundlich. Für uns Kinder fiel ab und zu ein Chewing Gum ab.

In der Ulmer Straße gab es auch eine Bäckerei, einen Metzger und einen Milchladen, sowie einen „Tante-Emma-Laden“. Ich wurde öfters dorthin zum Einkaufen geschickt bzw. durfte mit meiner Mutter oder Tante mitgehen. Alle Nahrungsmi­ttel natürlich nur gegen Lebensmitt­elkarten.

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