„An uns Gehörlose wird leider oft nicht gedacht“
Interview Die Maskenpflicht stellt viele Betroffene vor Herausforderungen. Die Illertisserin Alexandra Schmidt ist fast von Geburt an taub. Wie ihr die Kommunikation beim Einkaufen gelingt und was sie sich wünscht
Illertissen Einige Gehörlose haben mit Sorge auf die Einführung der Maskenpflicht in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr reagiert. Alexandra Schmidt, die in Biberach aufgewachsen ist und heute mit ihrer Familie in Illertissen lebt, ist seit ihrem neunten Lebensmonat ertaubt. Sie muss in Bayern eine Maske tragen, in Baden-Württemberg aber nicht, weil Gehörlose dort von dieser Pflicht befreit sind. Wie der 48-Jährigen die Verständigung beim Einkaufen gelingt und was sie sich von hörenden Mitmenschen wünscht, schildert sie in einem schriftlich geführten Interview.
Frau Schmidt, vom Tragen einer Maske sind in Bayern die Menschen befreit, denen das aus ärztlicher Sicht nicht zuzumuten ist. Können Sie sich als Hörgeschädigte mit einem Attest von der Maskenpflicht befreien lassen? Alexandra Schmidt: Nein, auch wir Gehörlose haben eine Maskenpflicht. Aber im bayerischen Ministerialblatt steht unter Paragraf 1, Punkt 3 „Das Abnehmen der Mund-NasenBedeckung ist zulässig, solange es zu Identifikationszwecken oder zur Kommunikation mit Menschen mit Hörbehinderung erforderlich ist“. Wer die Maske aufgrund von Kommunikation kurz abnehmen möchte, tut dies auf eigene Verantwortung!
Auf der anderen Seite der Iller, in Baden-Württemberg, gelten andere Regeln. Dort müssten Sie keine Maske tragen. Warum tun Sie es trotzdem? Schmidt: Um andere und mich selbst zu schützen, möchte ich eine Maske tragen. Ich selber setze dabei auf eine selbst genähte Stoffmaske oder ein über den Mund gezogenes Outdoor-Halstuch. Den Wunsch mancher Gehörloser, alle sollten durchsichtige Masken tragen, kann ich persönlich einerseits nicht unterstützen, weil ich umweltbewusst bin und der durchsichtige Teil aus Plastik besteht. Andererseits läuft die Folie beim Sprechen rasch an und der Speichel sammelt sich ungewollt dort. Die Entscheidung muss aber jeder selbst für sich treffen.
Wie war Ihre erste Reaktion, als Sie von der Maskenpflicht erfahren haben? Schmidt: Für mich war klar, dass die Gesundheit vorgeht. Ich selber habe kein Problem damit, da ich – wie viele andere gehörlosen Menschen auch – über Kompetenzen in der Gebärdensprache (DGS) verfüge. Dadurch kann ich alles zeigen, mit dem Fingeralphabet zum Beispiel buchstabieren, mich mit Fingergesten oder mit Augenbrauen und Mimik mitteilen. Das Kopfnicken bedeutet „Ja“, das Kopfschütteln „Nein“. Sollte das nicht klappen, kann ich auch etwas auf Papier schreiben oder das Smartphone nutzen.
Wie angewiesen sind Gehörlose auf das Lippenlesen beziehungsweise die Verständigung über Mimik?
Schmidt: Wie gesagt, für Menschen mit DGS-Kompetenzen ist es sicherlich kein Problem, sich mit Maske zu verständigen. Andere Gehörlose wiederum haben große Panik und fordern eine „Maskenfreiheit“, da sie sich eine Kommunikation ohne Mundbild nicht vorstellen können. Ich halte das für etwas übertrieben. Allerdings kann ich Senioren ohne DGS-Kompetenzen verstehen. Viele Senioren sind mit dem Oralismus aufgewachsen, das heißt sie haben gelernt, vom Mundbild abzulesen. Erst 2002 wurde in Deutschland die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt.
Seit mehreren Wochen besteht die Maskenpflicht nun schon. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Schmidt: Ich war in der Metzgerei, beim Bäcker, im Supermarkt, auf dem Markt und beim Optiker wegen einer neuen Brille. Überall hat es gut geklappt, denn die Verkäufer haben schnell verstanden, dass ich nichts höre, und schnell reagiert. Wir konnten uns über Gebärden, Fingergesten, Mimik und das Zeigen von Zahlen verständigen. Ich bin stolz darauf, dass sich die Verkäufer und Verkäuferinnen sowie die Mitmenschen so viel Mühe mit der Kommunikation geben.
Viele entdecken in diesen Tagen den Videoanruf für sich – als einen neuen Weg, um in Kontakt zu bleiben. Wie ist das bei Ihnen?
Schmidt: Schon lange vor der Corona-Pandemie habe ich mit Freunden, die weiter weg wohnen, per WhatsApp-Cam, Skype oder FaceTime kommuniziert. Oder mit „Glide“ein Video aufgenommen und abgeschickt. Seit Corona nutze ich den WhatsApp-Videoanruf nun auch, um mich mit meiner Mutter und mit meinen beiden hörenden Schwestern aus Biberach zu unterhalten. Allerdings kam auch eine neue Herausforderung hinzu: Ich gebe Familien mit gehörlosen Kindern Hausgebärdenkurse. Aufgrund der Pandemie sind die Besuche aktuell nicht möglich und so unterrichte ich momentan per Videotelefonie. Das klappt richtig gut und ich finde es toll, dass es heutzutage so viele Möglichkeiten gibt.
Wie gut läuft aus Ihrer Sicht die Inklusion in der Corona-Krise?
Schmidt: Zu Beginn der CoronaKrise fühlte ich mich nicht genug informiert. Es gab keine Gebärdensprachdolmetscher in den LiveÜbertragungen beziehungsweise keine Einblendung der Dolmetscher im TV, sondern nur teilweise Untertitel. Das hat sich durch ein Schreiben des Deutschen Gehörlosenbunds beziehungsweise der GMU aus München an die Politik geändert.
Wie sieht es mit den Nachrichtensendungen aus?
Schmidt: Bei den Abendnachrichten sind auf Phoenix und Tagesschau24 Dolmetscher dabei. Auf den anderen Sendern gibt es nur Untertitel. Andere Länder wie zum Beispiel Brasilien, die USA, Spanien oder Frankreich sind uns da weit voraus. Dort gibt es rund um die Uhr Dolmetscher, auch bei Live-Sendungen oder bei TV-Ansprachen der Politiker. Ich finde es sehr schade, dass in Deutschland das Bewusstsein hierfür noch nicht besteht. An uns Gehörlose wird leider oft nicht gedacht. Durch die Corona-Krise wurden viele Politiker wieder aufmerksam auf uns. Für mich bleibt allerdings die Frage: Bleiben die Gebärdensprachdolmetscher im TV auch nach der Pandemie? Oder müssen wir dann wieder darauf verzichten?
Was wünschen Sie sich von hörenden Mitmenschen in diesen Zeiten? Schmidt: Ich wünsche mir, dass hörende Menschen jetzt einen Denkanstoß erhalten. Dass das Bewusstsein der Mitmenschen für uns Gehörlose wächst und die Menschen mehr mit uns gebärden, mit Fingergesten zeigen oder mit dem Fingeralphabet buchstabieren – und ganz wichtig: vor allem den Blickkontakt halten! Und wenn das alles nicht klappt, dann schriftlich kommunizieren, zum Beispiel mittels Smartphone oder mit Stift und Papier.
Interview: Daniel Häfele
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