Illertisser Zeitung

Ein Sonntag, der alles verändert

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Annie Ernaux:

Die Scham

„An einem Junisonnta­g am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“Was für ein Einstiegss­atz! Es ist dieser lakonisch klingende Satz, mit dem die französisc­he Autorin Annie Ernaux das Schweigen über ein Lebenstrau­ma aufbricht – und sich schreibend von der Scham löst, die diese Schlüssels­zene ihrer Kindheit ausgelöst hat.

Ernaux, geboren 1940, ist mit ihren autobiogra­fischen Werken zu einer viel beachteten literarisc­hen Stimme geworden, weit über Frankreich hinaus. Als Erforscher­in ihres eigenen Lebens hat sie über ihre kleinbürge­rliche Abstammung (die Eltern betrieben einen Laden mit Kneipe in einer Kleinstadt in Nordfrankr­eich) und ihre Befreiung aus diesem katholisch­en Milieu immer wieder geschriebe­n – in schonungsl­os wahrhaftig­en Büchern über ihre Mutter, über ihren Vater, über ihren schwierige­n Weg der sexuellen Emanzipati­on. In „Die Scham“stellt sich Ernaux auf 110 Seiten dem Trauma ihrer behüteten Kindheit – und reflektier­t Erinnerung­sprozesse und das Schreiben. Sie war 12, als der Vater mit der Axt auf die Mutter losging. Später saßen alle wieder in der Küche zusammen – doch Annies Leben war nach diesem 15. Juni 1952 ein anderes. „Wie ein Filter lag dieser Sonntag zwischen mir und allem, was ich erlebte.“Wie die Autorin nun Jahrzehnte später in ihre Schulzeit und Jugend hineinleuc­htet und die Wurzeln ihrer Scham, die wie eine Gefangensc­haft war, freilegt, das ist bewegend zu lesen. Michael Schreiner

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Großlitera­t und liest unter großem Lampenschi­rm und vor schweren Le‰
derbänden von simplen Blättern im Frauenclub in Berlin. Die einen folgen innig seinem Text mit geschlosse­nen Augen, die anderen mustern ihn rau‰
chend, auf dem Tisch die Tässchen und das Täschchen. Es ist 1969, zehn Jahre nach der „Blechtromm­el“(und 30 Jahre, bevor er vor allem auch da‰
für den Nobelpreis erhielt) – also nein, er wird nicht die Stelle mit den Aalen im Pferdekopf lesen.
Foto: akg Ist das nicht allerliebs­t? Da sitzt der Großlitera­t und liest unter großem Lampenschi­rm und vor schweren Le‰ derbänden von simplen Blättern im Frauenclub in Berlin. Die einen folgen innig seinem Text mit geschlosse­nen Augen, die anderen mustern ihn rau‰ chend, auf dem Tisch die Tässchen und das Täschchen. Es ist 1969, zehn Jahre nach der „Blechtromm­el“(und 30 Jahre, bevor er vor allem auch da‰ für den Nobelpreis erhielt) – also nein, er wird nicht die Stelle mit den Aalen im Pferdekopf lesen.
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