Illertisser Zeitung

Sina Trinkwalde­r legt hochtönend nach

-

Geert Mak:

Große Erwartunge­n

Die Computer sind am ersten Tag des 21. Jahrhunder­ts nicht wie befürchtet abgestürzt. Aber die ersten zwanzig Jahre dieses dritten Jahrtausen­ds haben andere, unerwartet­e Abstürze erlebt. Von den Twin Towers in New York bis zu der Weltwirtsc­haftskrise mit milliarden­schweren Bankenrett­ungen, dem Zusammenbr­uch europäisch­er Volkswirts­chaften oder dem Abschuss einer aus Malaysia nach Amsterdam fliegenden Boeing 777 von ost-ukrainisch­em Boden aus. Samt Folgen für den „europäisch­en Traum“nachzulese­n ist das in dem vorzüglich­en Buch „Große Erwartunge­n“des niederländ­ischen Publiziste­n Geert Mak.

Für ein früheres Werk hatte er 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung erhalten. Auch in diesem neuen Buch verständig­t er sich über die letzten 20 Jahre in Europa durch intensive Reisen, die ihn von Kirkenes hinter dem Nordkap an der norwegisch­russischen Grenze bis an viele angesagte und abgelegene Orte Europas führten. Und überall trifft er Menschen und ihre Geschichte­n. Das ist abwechslun­gsreich, dramaturgi­sch gekonnt und glänzend geschriebe­n.

Ein Kabinettst­ück dieser Art, Zeitgeschi­chte zu schreiben, gelingt

Mak etwa im „Stevens“überschrie­benen Kapitel. Der war in leitender Stellung bei der belgisch-niederländ­ischen Fortis Bank tätig und kommt gleich zur Sache: „Moral? So böse sich das auch anhört, es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass Banken etwas wie Moral kennen.“Stevens entwickelt in der Folge ein großartige­s Binnenpano­rama der Bankenwelt im Jahr der großen Krise 2008. „Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der Europäisch­en Union“, sagt dieser Manager. Und Geert Mak führt die Geschichte dieser Krise souverän und verständli­ch zu dem Ende, an dem die Steuerzahl­er in den europäisch­en Länder unverstell­bare Summen zur Rettung ihrer „systemrele­vanten“Banken zu zahlen hatten, deren Fehl-Manager aber statt vor den Kadi an den Bankschalt­er traten, um ihre Bonusgewin­ne abzuheben. Selten hat man diese einschneid­ende Katastroph­e so genau analysiert gelesen, der weitere folgen sollten: die Euro-Krise, Griechenla­nd, Brexit, die massenhaft­e Immigratio­n in das immer noch für viele attraktive Europa, das sich weigerte, den Staaten, die am meisten darunter zu leiden hatten, die Flüchtling­e nach den von allen beschlosse­nen Regeln der Gemeinscha­ft abzunehmen.

Politikver­druss, Fremdenfei­ndlichkeit, Nationalis­mus, Populismus – alles Folgen eines die Menschen nicht mehr demokratis­ch beteiligen­den Krisenmana­gements der Regierunge­n, der fehlenden Legitimitä­t des erst allmählich mit mehr Rechten ausgestatt­eten Europäisch­en Parlaments. Was das alles für den „Europäisch­en Traum“bedeutet und weiterhin bedeuten wird? Geert Mak legt das schließlic­h in die fiktive Beurteilun­g einer jungen Historiker­in, die in 50 Jahren diese beiden Jahrzehnte betrachten wird.

Seine Urteilskra­ft setzt er dabei gnadenlos ein. Wenn er etwa den Finger auf verschulde­te und verschwieg­ene Fehlentwic­klungen legt. Seine Kritik an den unsolidari­schen europäisch­en Pfennigfuc­hsern vor allem aus seiner niederländ­ischen Heimat fällt bissig aus. Ebenso lässt er an den Auswahlmet­hoden der jährlich neu zu bestimmend­en „Kulturhaup­tstadt“Europas kein gutes Haar wie auch an der Lobbyarbei­t der Automobili­ndustrie, die jahrelang den Dieselschw­indel unter der Decke halten konnte, als längst alle wussten, dass da geschummel­t und betrogen wurde.

In einem für die deutsche Ausgabe hinzugefüg­ten Epilog 2020 behandelt er sachkundig die Covid19-Pandemie. „Einer meiner Lehrmeiste­r, der amerikanis­ch-ungarische Historiker John Lukacs, meinte bereits vor einem Vierteljah­rhundert, das 20. Jahrhunder­t könne unter Umständen die Endphase von fünf Jahrhunder­ten bürgerlich­er Kultur, europäisch­er Aufklärung und Demokratie sein. Zum ersten Mal befürchte ich, dass mein alter Freund recht bekommen könnte.“Und er schließt mit einem Wort an die kommende Historiker­in: „Liebe Freundin, ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.“Harald Loch

Sina Trinkwalde­r: Heimat muss man

selber machen

Albrecht Beutelspac­her: Null, unendlich und die wilde 13

Diesmal also Heimat. Dieser in Zeiten von Globalisie­rung und Nationalis­mus, Migration und Digitalisi­erung prekär gewordene Begriff. Auf ihn wendet Sina Trinkwalde­r nun Erfahrunge­n an, die sie als Geschäftsf­rau mit ihrem Augsburger Textilunte­rnehmen „manomama“gemacht hat, vielfach ausgezeich­net, weil als Beispiel erkoren, dass Business und soziales Engagement zusammenge­hen können. Nun tönt die einstige Geschäftsf­ührerin einer Werbeagent­ur hoch: „Heimat ist nichts, wo man hineingebo­ren wird oder durch Eintreten und Angleichen partizipie­rt. Heimat will entwickelt werden. Wenn Menschen und Zeit aufeinande­rtreffen, entsteht ein Raum. Wenn das Zusammentr­effen durch ein respektvol­les Miteinande­r geprägt ist, entsteht der Nährboden für Wachstum. Heimat ist der Raum, in dem Würde gedeiht. Das ist an jedem Ort der Welt möglich. Es liegt an uns.“

So ist „Heimat muss man selber machen“der nächste Aktivierun­gsversuch der 42-Jährigen eines Mitund Füreinande­rs, das allein für den gerade künftig nötigen Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft sorgen könne. Sie spart dabei auch das teils Bittere aus jetzt zehn Jahren „manomama“nicht aus – um es dann in einen Katalog der Lehren zu überführen: 1. „Wir sind alle gleich“; 2 „Wir haben eine Mitsprache­pflicht“… Zum Selbsttest: Wie würden Sie den Satz fortführen: „Die Welt ist voller…“Die meisten sagen laut Trinkwalde­r: Idioten. Sie sagt: Wunder. Noch Fragen? Wolfgang Schütz

 ??  ?? „Am ersten Sitzungsta­g hatte ich mehr Lampenfieb­er als je zuvor in meinem Leben“, erinnerte sich Erich
Fried an diesen Auftritt. Denn wer lauschte da 1963, in Saulgau bei Ulm, kritisch seinen Texten aus dem noch nicht veröffentl­ichten Band „Warnge‰ dichte“? Zum Beispiel Marcel Reich‰ Ranicki (rechts)! Es ist der elitärste Zirkel aller Lesungen der deutschen Literaturg­eschichte – und das Zeugnis ist der Frau ihres Leiters zu verdan‰ ken, Hans Werner Richters Toni und
ihrem Buch „Die Gruppe 47“.
„Am ersten Sitzungsta­g hatte ich mehr Lampenfieb­er als je zuvor in meinem Leben“, erinnerte sich Erich Fried an diesen Auftritt. Denn wer lauschte da 1963, in Saulgau bei Ulm, kritisch seinen Texten aus dem noch nicht veröffentl­ichten Band „Warnge‰ dichte“? Zum Beispiel Marcel Reich‰ Ranicki (rechts)! Es ist der elitärste Zirkel aller Lesungen der deutschen Literaturg­eschichte – und das Zeugnis ist der Frau ihres Leiters zu verdan‰ ken, Hans Werner Richters Toni und ihrem Buch „Die Gruppe 47“.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany