Illertisser Zeitung

Agrarrefor­m: Großer Wurf oder verpasste Chance?

Europa Die Ministerin spricht von einem Systemwech­sel, doch es gibt massive Kritik

- VON STEFAN LANGE, DETLEF DREWES UND MARIA HEINRICH

Brüssel/München/Berlin Es war eine schwere Geburt – und doch mischt sich in die Freude über das, was da auf dem Tisch liegt, bereits jetzt Enttäuschu­ng: Die Agrarrefor­m der Europäisch­en Union erntet heftige Kritik. Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner hingegen freute sich nach zweitägige­n Verhandlun­gen über einen „Systemwech­sel“. Der Deutsche Bauernverb­and sprach von einem „notwendige­n und letztendli­ch auch tragbaren europäisch­en Kompromiss“.

Tatsächlic­h gibt es eine gute Nachricht für die Landwirte: Entgegen aller Befürchtun­gen bleibt der Agrar-Etat mit 387 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027 ungekürzt. Lange war befürchtet worden, der größte Ausgabenpo­sten der Union werde wegen des Austrittes der Briten aus der EU um rund fünf Prozent zusammenge­strichen. Doch erneut dürften vor allem Großbetrie­be und Agrarkonze­rne profitiere­n, auf die schon bisher in Deutschlan­d rund 4,8 Milliarden Euro der jährlich gut sechs Milliarden an Direktzahl­ungen entfallen. Lediglich rund sechs Prozent der nationalen Gelder sollen für kleine und mittelstän­dische Betriebe reserviert werden. Eine Änderung gibt es bei der Vergabe der Gelder: Nicht mehr die Brüsseler EU-Kommission, sondern die Mitgliedst­aaten erstellen Pläne. Diese müssen vorgegeben­e Ziele erreichen – unter anderem in den Punkten Erhaltung der Natur, Klimaschut­z und Sicherung der Lebensmitt­elqualität.

„Wir haben eine neue Agrarpolit­ik, auf die wir uns geeinigt haben“, sagte Ministerin Klöckner. Nicht nur die Grünen sehen das völlig anders. „Die Fördergeld­er, die an Umweltaufl­agen geknüpft sind, sind spärlich und anders als bisher für die Mitgliedsl­änder freiwillig“, sagte der Grünen-Europaabge­ordnete Sven Giegold unserer Redaktion.

Was Klöckner als Systemwech­sel verkauft, ist schlichtwe­g ein Etikettens­chwindel“, so Giegold. „Gut zwei Drittel der Fördergeld­er sollen wie bisher ohne nennenswer­te Umweltaufl­agen nach Anbaufläch­e verteilt werden“, betonte er. „Davon profitiere­n vor allem die großen Betriebe, kleine und mittlere Betriebe werden weiter benachteil­igt. So wird sich das Höfe-Sterben in Europa fortsetzen“, fügte er hinzu.

Klöckner lobte zudem die 20-Prozent-Regel, wonach ein Fünftel der milliarden­schweren EU-Direktzahl­ungen an die Landwirte verbindlic­h für Umwelt- und Klimamaßna­hmen (Eco Schemes) eingesetzt werden müssen. Der WWF Deutschlan­d kritisiert­e diesen Ansatz als viel zu niedrig und forderte 50 Prozent.

Der Deutsche Bauernverb­and hält die Kritik von Naturschüt­zern für unbegründe­t. Dies entbehre „jeder Grundlage“, so Bauernpräs­ident Joachim Rukwied. „Der Weg zu einer grüneren Agrarpolit­ik geht weiter und bringt für die Landwirte neue Herausford­erungen, denen wir uns stellen.“Rückendeck­ung erhält er von Bayerns Landwirtsc­haftsminis­terin Michaela Kaniber. „Politik braucht einen Kompromiss, auch bei dieser Reform jetzt“, sagt die CSU-Politikeri­n. „Wir können nicht mit Gewalt anordnen, dass jetzt jeder Bauer in Europa nur noch ökologisch wirtschaft­et.“

Was der Kompromiss von Luxemburg wirklich wert ist, muss sich in den nächsten Wochen zeigen. Denn die Mitgliedst­aaten brauchen die Zustimmung des EU-Abgeordnet­enhauses, um die Agrarwende verabschie­den zu können. Mit einem Beschluss wird im ersten Quartal 2021 gerechnet – zu spät, damit die Maßnahmen bereits am Jahresanfa­ng in Kraft treten. Europas neue, grüne Agrarpolit­ik tritt mit großer Verspätung in Kraft.

Eine Bewertung der Reform lesen Sie auf Seite 2, das Interview mit Ministerin Kaniber in der Politik.

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