Wie viel Widersprüchlichkeit halten wir aus?
Gastbeitrag Die Corona-Politik muss zwei gegensätzliche Werte miteinander verbinden: Infektionsschutz und eine offene Gesellschaft – das ist eine Herausforderung für uns alle
Nichts ist mehr, wie es gestern war. Schlagartig hat die Corona-Pandemie das Alltagsleben fast aller Menschen weltweit verändert. Eine historische Zäsur also? Ein Einschnitt, der eine Epoche globaler Leichtigkeit beendet und Raum schafft für neue Entwicklungen? Auch wenn es so scheinen mag: So einfach ist es in der Geschichte nie. Selbst welthistorische Umwälzungen wie die Französische Revolution oder der Erste Weltkrieg knüpften an Vergangenes an und beschleunigten Prozesse, die es schon lange zuvor gegeben hatte.
Auch die Corona-Pandemie wird in die Geschichte eingehen als starker Katalysator, der bereits Bekanntes ans Licht bringt und verstärkt. Das betrifft zum Beispiel die Digitalisierung oder den Technologieschub in der Autoindustrie, die Kritik am Massentourismus und an der Vielfliegerei. Vor allem aber wird die soziale Ungleichheit extrem verschärft, über die in den letzten Jahren schon so intensiv diskutiert wurde. Es ist ein Irrtum zu glauben, von der Pandemie fühle sich jeder gleichermaßen betroffen und entsprechend leicht folgten die Menschen dem Appell an Solidarität und Zusammenhalt. Man braucht nur um die Ecke zu gehen und hört es schon: Der Rentner freut sich, dass er „gut durch Corona“gekommen ist; der Selbstständige hundert Meter weiter verzweifelt über seine ruinöse Geschäftslage. Ganz gleich, wohin man sieht: Ob es die Polarisierung zwischen Online-Handel und den Einzelhandelsgeschäften in der Fußgängerzone ist; zwischen Inhabern sicherer Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst und denen, die vor der betriebsbedingten Entlassung stehen; zwischen nachgefragten ITAnbietern und ruinierten Freelancern, zwischen Alten und Jungen, Männern und Frauen, Familien mit Kindern und alleinstehenden Berufstätigen: Die Pandemie und die ergriffenen Gegenmaßnahmen treffen sie in extrem ungleicher Weise und dies weder aufgrund individuellen Verdienstes noch persönlichen Versagens. Darüber hinaus leiden die sozial Schwächeren, die Migranten und – wie vor allem in den USA und in Großbritannien – die ethnischen Minoritäten ganz besonders.
Die Pandemie ist also nicht nur eine Bedrohung durch Krankheit. Vielmehr ist sie seit ihrem Beginn eine Krise von gewaltigen politischen, sozialökonomischen und psychologischen Dimensionen. Und eben darin liegt die beispiellose Herausforderung, vor der Politik und
Wohnortes. Erst recht in Zeiten verbreiteter Angst vor der Krankheit ermutigt eine solche Politik in fataler Weise dazu, das „Fremde“zu stigmatisieren und vom „Eigenen“gedanklich auszugrenzen. Am Ende dieser schiefen Ebene steht dann nicht weniger als die Denunziation.
Gibt es denn aber nun Möglichkeiten, der Aporie zu entkommen? Kurzfristig wohl nicht. Und neben einer ehrlichen Diskussion hierüber müssen wir uns wahrscheinlich darauf einstellen, gelassener zu werden. Dazu gehört auch das Bewusstsein für die Kosten der Freiheit. In einer offenen Gesellschaft steigt die Wahrscheinlichkeit, dass gegenläufige Perspektiven und Prioritäten, ja sogar unterschiedliche Rechtsgüter in Konflikt zueinander treten. Eine funktionierende
„Wir befinden uns im Grunde in einer Situation, in der es unmöglich ist, die richtige Entscheidung zu treffen.“