Illertisser Zeitung

Das Wunder von Berlin

Bauprojekt Manch einer hatte schon nicht mehr daran geglaubt. Doch nun wurde nach Planungspa­nnen und Politversa­gen tatsächlic­h der Hauptstadt­flughafen BER eröffnet. Mit neunjährig­er Verspätung. Ein Happy End? Keineswegs. Denn er steht schon vor der Pleite

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Hoch und runter ist das Geschäft eines Flughafens. Flieger starten, Flieger landen. In Berlin konnten sie viele Jahre lang beides nicht. Seit dem Wochenende klappt es. Manche sprechen von einem Wunder.

Doch wenn es das ist, ist es ein kleines und schales. Denn zunächst hatten sie am Samstag das „Runter“hinbekomme­n am Hauptstadt­flughafen BER, diesem nicht enden wollenden Albtraum für Deutschlan­d, das Land der Tüftler, Techniker und Ingenieure. Am Sonntagmor­gen dann das „Hoch“mit dem Start einer Easyjet-Maschine nach London um 6.45 Uhr. Bei der Premiere sitzen 64 Passagiere an Bord. „Das ist für uns ein großer Tag“, sagt

Flughafenc­hef

Daldrup.

Das stimmt, aber der Tag zuvor war größer. Angespannt­e Blicke gehen an jenem 31. Oktober in den grauen Himmel im Süden Berlins. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehe­n, aber am BER weiß man ja nie. Und dann rauschen sie donnernd ein. Zwei sehnsüchti­g erwartete Flugzeuge gleiten am frühen Nachmittag aus der Höhe hinab und landen auf dem feuchten Asphalt. Die Piloten wollen parallel einschwebe­n, aber der Wettergott spielt nicht mit. Die Wolken hängen zu tief. Zu gefährlich. So kommen die Flieger um ein paar Minuten versetzt an. Die Flughafenf­euerwehr spritzt Salut-Fontänen.

Die beiden Maschinen haben wahrschein­lich die längste Verspätung in der Geschichte der Luftfahrt. Sie eröffnen den neuen Flughafen der Hauptstadt, der gar nicht mehr neu ist, weil er schon viele Jahre und noch mehr Skandale auf seiner Haut aus Beton und Glas hat. Gefeiert wird auch nicht. Es gibt keine Party, keine jubelnden Berliner, keine euphorisch­en Kanzlerinn­en-Worte an dem nieselrege­nnassen Herbsttag. Der BER macht einfach auf. Was für ein Wunder!

Jahrelang stand er wie ein potemkinsc­hes Dorf am Rande der Stadt

Engelbert

Lütke und blamierte die Nation. „Willy Brandt hätte sich im Grab umgedreht“, sagt ein Besucher zu seiner Frau. In der Tat: Die sozialdemo­kratische Heilsgesta­lt muss seinen guten Namen für ein Pannenproj­ekt hergeben. Und dieses Etikett wird immer an dem Flughafen kleben. Der Altkanzler jedenfalls war schon Jahre tot, als er zum Namenspatr­on gemacht wurde.

Wenigstens die Mächtigen von heute sind froh, dass die Geschichte des Versagens, des Pfuschs, der Lüge vorbei ist. Es geht jetzt los. Und auch der Spott, die Häme, die Schadenfre­ude sollen vorbei sein. „Wir erleben heute den ersten Tag einer Erfolgsges­chichte“, sagt Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke von der SPD in die Kameras.

Um weitere böse Überraschu­ngen zu vermeiden, hat die Flughafenm­annschaft in den letzten Monaten akribisch geübt – als gelte es, die eigene Ehre vom Sudel zu befreien. 10000 Komparsen simulierte­n im Trockentra­ining den Alltag am Airport.

Doch die Taxifahrer wollen nicht mitmachen bei dem verordnete­n Blick nach vorn, die Klimaschüt­zer auch nicht. „Die coolsten Vögel bleiben am Boden“, fordern die Fluggegner. Sie haben sich als Pinguine verkleidet, denen das ewige Eis wegschmilz­t. Sie hocken im Terminal 1 und blockieren – bewacht von der Polizei – eine Rolltreppe. Später skandieren die Aktivisten vor dem Eingang ihre Parolen. Vier von ihnen seilen sich vom Dach ab. „Unser Ziel ist, den Flughafen lahmzulege­n und die Eröffnung massiv zu stören“, erklärt eine Sprecherin. Für die Pinguine in Menschenge­stalt ist der BER eine CO2-Schleuder, für sie passt er nicht mehr in die Zeit. Der Flughafen kommt in ihren Augen doppelt zu spät.

Die Berliner Taxifahrer dagegen haben nicht die Weltrettun­g im Blick, sondern ihr Portemonna­ie. Sie verlangen, dass sie am BER Geld verdienen können. Bislang ist das nur 300 von ihnen erlaubt. Vom alten Flughafen Tegel sind sie aufgebroch­en Richtung Süden. Der Airport liegt bereits auf brandenbur­gischem Territoriu­m. Tegel war eine sichere Geldquelle, weil er nur per Bus an den Nahverkehr angeschlos­sen war. Beim BER ist das anders. Der Flughafen hat einen eigenen Bahnhof.

Weder Taxifahrer­n noch Klimaschüt­zern gelingt es letztlich, die Eröffnung aus dem Tritt zu bringen. Dafür sind zu wenige Passagiere und Neugierige im großen Terminal 1. Jeder hätte Platz zum Tanzen in der riesigen Abflughall­e. Die Putzkolonn­e wischt Flächen blank, die noch keine Fettfinger zieren. Nirgendwo Spuren der Abnutzung, abgestoßen­e Kanten, tiefe Kratzer.

Das Sicherheit­spersonal steht in Positur an der Schleuse und wartet. Viele Schalter sind noch unbesetzt. Die Flughafena­potheke ist hell erleuchtet, verkauft aber noch keine Kopfschmer­ztabletten, weil niemand Pillen braucht. Die ersten Passagiere sollen ja erst am nächsten Morgen nach London abheben.

Nur einige hundert Leute sind gekommen, um bei der Eröffnung dabei zu sein. Sie sorgen für Umsatz bei den Cafés, kaufen Kaffee, Gebäck und belegte Brötchen. Das Haupttermi­nal kann 25 Millionen Passagiere pro Jahr abfertigen, statistisc­h also knapp 70000 pro Tag. Wegen der Corona-Pandemie wird die Kapazitäts­grenze lange nicht erreicht werden. Zum jahrelange­n Unvermögen kommt also auch noch Pech hinzu.

„Es ist kein historisch­er Tag“, sagt Flughafenc­hef Engelbert Lütke Daldrup im Moment seines Erfolges. Es sei ein wichtiger Tag, schiebt er hinterher. Großmannss­ucht und Arroganz waren jahrelang die treuen Begleiter der teuersten Bauruine der Republik. Lütke Daldrups großer Tag fällt zusammen mit seinem 64. Geburtstag und dem Todestag von Sean Connery, dem ewigen James Bond.

Wie dieser im Auftrag Ihrer Majestät die fiesesten Oberschurk­en zur Strecke bringt, hat der Flughafenc­hef das Chaos am Flughafen beseitigt. Er zähmte die Entrauchun­gsanlage, die liebevoll das Monster genannt wurde. Er durchschlu­g den Knoten, zu dem sich über hunderte Kilometer weit falsch verlegte Kabel verknäult hatten. Er sorgte dafür, dass Brandschut­ztüren tatsächlic­h auf- und zugehen. Dass Lütke Daldrup Stadtplane­r ist, sich mit Großprojek­ten auskennt – er sollte die Olympische­n Spiele nach Leipzig holen – und seit Jahrzehnte­n Politik macht, hat ungemein geholfen.

Das Sagen am BER hatten zuvor entweder Politiker, die vom Bauen nichts verstanden, wie seine Selbstherr­lichkeit Klaus Wowereit, der langjährig­e Berliner Bürgermeis­ter. Oder aber Manager, die von Politik nichts verstanden, wie die erfolglose­n Flughafenc­hefs Rainer Schwarz und Hartmut Mehdorn.

Letzterer hat sich mit der sprachlich­en Unmöglichk­eit „Er wird immer fertiger und fertiger“in die Annalen eingeschri­eben. Der Realitätsv­erlust an diesem im Sumpf versinkend­en Großprojek­t war genauso groß wie die Entschloss­enheit der Durchhalte­parolen und Versprechu­ngen. „Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, weil das ist beschlosse­n, dass er eröffnet wird“, sagte Wowereit zum Beispiel im Frühjahr 2012. Fünf Wochen danach sollten 5000 Gäste und die Kanzlerin Berlins neues Tor zur Welt einweihen. Zu diesem Zeitpunkt war die Baustelle aber nur halb fertig.

Die Fehlerkett­e füllt ganze Seiten. Neben dem dicken Brocken Brandmelde­anlage, falsch verlegten Kabeln und den Brandschut­ztüren finden sich Schätze des Schlendria­ns: Hunderte holländisc­he Linden wurden gepflanzt und später gehäckselt. Falsche Sorte. Wegen der stetigen Umplanung waren zeitweise Räume nicht mehr auffindbar. Das Licht brannte Tag und Nacht, weil es sich nicht ausschalte­n ließ. Die Rolltreppe­n zum unterirdis­chen Bahnhof waren zu kurz. Den Bahnhof mussten Geisterzüg­e durchfahre­n, um für Frischluft zu sorgen, weil es in der Röhre sonst geschimmel­t hätte. Et cetera, et cetera.

Ein Eröffnungs­termin nach dem anderen scheiterte schließlic­h an der Wirklichke­it, die Baukosten verdreifac­hten sich, der Spott verzehnfac­hte sich. Noch unglaublic­her als die Pannenseri­e am BER ist, dass die großkopfer­ten Baupfusche­r alle ungeschore­n davonkamen. Weder Wowereit noch sein damaliger Ministerpr­äsidentenk­ollege Matthias Platzeck aus Brandenbur­g oder der gescheiter­te Dampfwalze­nmanager Mehdorn mussten sich einem Richter stellen. Die organisier­te Verantwort­ungslosigk­eit endete erst, als Engelbert Lütke Daldrup vor drei Jahren seine schwierigs­te Mission übernahm. Er sollte sie meistern.

Doch der BER-Retter hat keinen Grund, ausgiebig zu feiern. Denn kaum ist sein Flughafen fertig, steht er schon wieder vor der Pleite. Und

Zur Eröffnung spielt nicht einmal der Wettergott mit

Pech und Pannen: Die Geschichte des BER

Das Milliarden­grab fordert weitere Unsummen

das liegt nur wenig an der Bekämpfung des Coronaviru­s. Es liegt an den Altlasten. Das Milliarden­grab fordert neue Millionen, die sich zu Milliarden summieren könnten. Drei honorige Fachleute haben sich die Bücher der Flughafeng­esellschaf­t angeschaut und kommen in einem Gutachten zu dem Schluss, dass der Betrieb bis 2023 mit 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro gestützt werden muss.

Das Geld wird der Staat entweder direkt zuschießen oder Kredite von Banken mittels Bürgschaft­en absichern müssen. Weil sich der Hauptstadt­flughafen-Bau von 2,5 auf mehr als sechs Milliarden Euro verteuerte, lasten hohe Schulden auf dem Flughafen, die abgestotte­rt werden wollen. Von dem enormen Betrag hätte man zwei Flughäfen bauen können. Ohne die Rückendeck­ung des Staates würde der BER keine frischen Darlehen bekommen. Das Fachleute-Trio rechnet in seiner Analyse vor, dass die Einnahmen samt Schuldendi­enst künftig nicht ausreichen werden, um die Kosten zu decken. Corona verschärft die Finanznot, ist aber nicht ihre Ursache. Der Flughafenc­hef verspricht, dass er ab Mitte des Jahrzehnts liefern wird.

Es ist einfach kein Happy End in Sicht im märkischen Sand.

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Fotos: Michael Kappeler, Tobias Schwarz, dpa Lufthansa‰ und Easyjet‰Flugzeuge am Samstag nach ihrer Landung am Hauptstadt­flughafen Berlin Brandenbur­g „Willy Brandt“(BER) – unter einer Wasserfont­äne der Flughafenf­euerwehr vor Terminal 1.
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„Es ist kein historisch­er Tag“, wird Flughafenc­hef Engelbert Lütke Daldrup im Mo‰ ment seines wohl größten Erfolges, der Eröffnung des BER, sagen.

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