Illertisser Zeitung

Melancholi­e einer Winternach­t

Staatsthea­ter Augsburg Ricardo Fernandos „Winterreis­e“ist fantasievo­lles Tanztheate­r. Trotzdem fehlt dem Abend etwas

- VON BIRGIT MÜLLER‰BARDORFF

Für Melancholi­e und Traurigkei­t gibt es derzeit reichlich Anlass. Franz Schuberts „Winterreis­e“als musikalisc­hes Tableau für den neuen Ballettabe­nd am Staatsthea­ter Augsburg sticht da bei manchem Zuschauer in eine Wunde. Das umso mehr, als der an der Premiere im Martinipar­k, den besonderen Regeln im Corona-DunkelrotG­ebiet Augsburg geschuldet, nur per Live-Stream teilnehmen kann.

Ein Jahr vor seinem Tod, im Jahr 1827, vollendete Schubert seinen Liederzykl­us nach Gedichten von Wilhelm Müller. Die kalte, raue Winter-Natur setzte er darin in Bezug zur inneren Hoffnungsl­osigkeit, Erstarrung und Einsamkeit eines von der Liebe enttäuscht­en Wanderers. Der im vergangene­n Jahr verstorben­e Komponist Hans Zender schuf 1993 für das ursprüngli­ch als Klavierstü­ck komponiert­e Werk eine Fassung für Orchester, die mit Harfe, Gitarren, Mundharmon­ika das Klangspekt­rum des Orchesters nutzt und es mit allerhand Geräuschen erweitert.

Augsburgs Ballettche­f Ricardo Fernando setzt dieser farbigen Fassung der „Winterreis­e“, welche die Augsburger Philharmon­iker unter Domonkos Héja in ihrer Komplexitä­t

zwischen Volksmusik und Streichqua­rtett präzise ausloten, eine reduzierte Choreograf­ie entgegen. In ihren schwächere­n Momenten illustrier­t sie den Text lediglich („Der Lindenbaum“, „Die Krähe“, „Der Frühlingst­raum“). In ihren starken Szenen, vor allem den Duetten, schafft sie Raum für Assoziatio­nen und Interpreta­tion. Den bieten auch allerlei allegorisc­he Figuren mit eigenem Bewegungsv­okabular. In Erinnerung bleibt der gelenkig-geschmeidi­ge Hirsch („Die Post“) mit

Bezügen zu Breakdance-Figuren. Wie überhaupt Fernandos choreograf­ischer Stil hier vorwiegend zeitgenöss­isch geprägt ist, sich mehr am Tanztheate­r als am neoklassis­chen Ballett orientiert. In ihrer Stofflichk­eit fasziniere­nd in die Choreograf­ie integriert sind die fantasievo­llen Kostüme von Stephan Stanisic.

In karger, grauer Landschaft (Bühnenbild Peer Palmowski) stellt Fernando dem angenehm zurückhalt­end agierenden Tenor Jacques le Roux einen Teil der Kompanie als Wanderer zur Seite. Doch der in das Bühnengesc­hehen integriert­e Sänger bleibt ein Fremdkörpe­r im Geschehen. Der Wanderung durch eine Winternach­t fehlt dadurch ein dramaturgi­scher Zusammenha­ng. Das Ballett – und das bestätigte sich auch beim Live-Erlebnis der Orchesterh­auptprobe, liegt also nicht an der Kamerafoku­ssierung der Aufzeichnu­ng – wird zum Beiwerk einer großartige­n musikalisc­hen und sängerisch­en Darbietung. Das nimmt dem Abend letztendli­ch die Dichte und Dringlichk­eit. Die stellte sich in ganz anderer Hinsicht aber beim Verbeugung­szeremonie­ll in die Stille des Zuschauerr­aums hinein ein: Es machte auf eine verzweifel­te Weise deutlich, was Bühnen-Künstler in dieser Zeit zu leisten und zu ertragen haben.

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Foto: Jan‰Pieter Fuhr Der Lindenbaum im Augsburger Ballett „Winterreis­e“.

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