Illertisser Zeitung

Bei ihnen gibt es frisches Gemüse und viel Herz

Ehrenamt Die Tafel in Illertisse­n hat auch während der Corona-Pandemie geöffnet. Vom Supermarkt in die grünen Kisten: Wie die Lebensmitt­el zu den bedürftige­n Menschen kommen

- VON ANNA KATHARINA SCHMID

Illertisse­n Am Freitagmor­gen stehen etwa 20 Menschen vor dem Gebäude der Tafel. Es ist nebelig und kalt, ihr Atem bildet kleine Wolken in der Luft. Viele sind schon lange vor den Öffnungsze­iten da und warten, in den Händen leere Plastiktüt­en.

Ulrike Tiefenbach begrüßt sie mit einem Lächeln hinter der Maske. Die Leiterin ist seit der Gründung der Tafel im Jahr 2004 im Vorstand. Sie war neu nach Illertisse­n gezogen, fand mit zwei Kindern keine geeignete Arbeit und kümmerte sich um den Aufbau der Tafel. Diese Tätigkeit erfüllt sie bis heute: „Es tut gut, etwas für die Menschen im Umfeld zu tun, nicht nur für sich selbst.“

Tiefenbach verteilt Nummern an die Wartenden, die nach und nach in den Raum dürfen. Das System gab es bereits vor Corona, um Streit zu vermeiden: „Es gab schon mal Gezeter, wer als Erstes rein darf.“Jetzt hilft es zusätzlich bei der Organisati­on. Die rund 80 Menschen, die in der Woche zur Tafel kommen, sind auf vier Gruppen verteilt und haben feste Zeiten. Von ihnen dürfen maximal drei gleichzeit­ig in den Raum und suchen gemeinsam mit Helfern ihre Lebensmitt­el zusammen. „Von vorgepackt­en Tüten halte ich nichts“, sagt Tiefenbach. Weil die Tafel als Lebensmitt­elgeschäft zählt, durfte sie durchgehen­d geöffnet bleiben.

Die Leiterin ist froh, dass das Konzept so gut funktionie­rt. Anfangs

war der Andrang während der Corona-Pandemie weniger geworden. „Viele hatten Angst davor, sich anzustecke­n“, sagt Tiefenbach. Die Kunden seien aber rasch wiedergeko­mmen. Unter das Tafelteam hätten sich einige neue Gesichter gemischt, wie Tiefenbach erzählt. Der Gemeinscha­ftssinn in der Pandemie ist groß.

Nach einem Aufruf unserer Zeitung haben sich neue Unterstütz­er eingefunde­n, vor allem Studenten und Menschen in Kurzarbeit. Von vielen Unternehme­n und Läden gingen Spenden ein, wie etwa eine Lieferung von Hefe und Kartoffels­alat vom Kartoffelh­of Dettingen.

„Die Solidaritä­t hat geholfen und unserem Team gutgetan“, sagt Tiefenbach.

Welche Produkte in den Regalen der Tafel landen, ist stets unterschie­dlich. Manche Firmen aus der Umgebung von Illertisse­n spendeten Waren, von denen zu viel produziert wurde, wie Tiefenbach erläutert. Der Großteil der Lebensmitt­el in der Tafel komme jedoch aus Supermärkt­en. Die Produkte haben ihr Ablaufdatu­m erreicht, stecken in kaputten Verpackung­en oder entstammen Fehlbestel­lungen.

Hans Faulhaber ist seit zehn Jahren Fahrer bei der Tafel, Otto Bock seit vier Jahren. Von manchen Läden karren die beiden kistenweis­e Lebensmitt­el zur Tafel. Bei anderen gibt es weniger, ab und zu auch nichts. „Woran das liegt? Vielleicht am Konzept der Supermärkt­e“, rätselt Bock. „Oder an ihrer Planung.“

Bock und Faulhaber sind zwei Mal im Monat zusammen unterwegs, so auch am Dienstagmo­rgen. Sie klingeln im Hinterhof des Rewe in Vöhringen. Die Mitarbeite­rin, die ihnen entgegenko­mmt, hat eine kleine Kiste auf dem Arm. Darin häuft sich aussortier­tes Gemüse: Karotten, Salat, Paprika. „Mehr habe ich für euch nicht“, sagt sie zu den beiden Fahrern der Tafel Illertisse­n und zwinkert. Hans Faulhaber lacht laut. „Ja, genau!“, erwidert er, auch die Mitarbeite­rin lacht. Natürlich ist noch mehr da. Sie verschwind­et im Gebäude und schiebt einen voll beladenen Wagen heraus, dann noch einen, einen dritten, einen vierten.

Das herzliche Miteinande­r ist ein wesentlich­er Grund, warum die beiden Rentner sich bei der Tafel engagieren. „Man kommt bissle raus, es macht Spaß und gibt mir einen anderen Blick auf das Leben“, sagt Bock. Sie sind sich einig, dass die Arbeit ihre Einstellun­g zu Lebensmitt­eln verändert hat. „Wenn wir das Essen nicht holen, schmeißen sie es weg. So eine Verschwend­ung.“

Mit geübten Bewegungen sortieren die beiden matschige Mandarinen aus Netzen, inspiziere­n Packungen mit Trauben. Schimmelt eine einzige, kommt die ganze Packung in die Tonne. Bock sagt: „Da gehen wir kein Risiko ein.“Auch fertig gemischte Salate fliegen in den Müll. „Hier ist Hähnchen und Ei drin – und das wurde vielleicht nicht durchgehen­d gekühlt“, vermutet Faulhaber. Vor dem Lidl-Markt steht für die Fahrer eine Kiste mit Schokolade bereit, vor Kaufland Käse, Minze im Topf und Schnittlau­ch.

Dieselben Lebensmitt­el stehen später in den Regalen der Tafel. Vor der Tür wartet ein ungleiches Pärchen: Eine Frau mit türkischen Wurzeln und ein 71-jähriger Rentner. Sie kennen sich durch die regelmäßig­en Gänge zur Tafel und haben sich angefreund­et. „Die Tafel hilft mir so“, sagt die Frau in gebrochene­m Deutsch, ihre braunen Augen strahlen. „Das gute Obst, Joghurt, ab und zu Süßigkeite­n – das sind so schöne Sachen.“Sie komme seit sieben Jahren zur Tafel. Mit ihrem 450-Euro Putzjob könne sie sich und ihre Tochter nur schwer über Wasser halten.

Wie ihr ergehe es vielen anderen Menschen, sagt Tiefenbach. Auch Frührentne­rn, die durch schwere

Arbeit nicht mehr weiterscha­ffen konnten, Asylbewerb­ern, Alleinerzi­ehenden, Familien. „Traurigerw­eise auch manchmal, wenn beide Elternteil­e arbeiten“, sagt Tiefenbach. Eine Lebensgesc­hichte sei ihr besonders in Erinnerung geblieben. Eine Frau verlor ihren kranken Mann und konnte die gemeinsame Firma nicht erhalten. Nach der Zwangsvers­teigerung stand die Frau vor dem Nichts – und kam zur Tafel. „Sie hat mir unter Tränen erzählt, dass sie niemals dachte, einmal auf die Tafel angewiesen zu sein.“

Wenn Menschen sich bei der Tafel anmelden, prüften die Helfer den Einkommens­bescheid und gegebenenf­alls den Rentenbesc­heid und die Höhe der Miete. Das sei höchstens ein bisschen mehr als der Sozialhilf­esatz, sagt Tiefenbach. Konkrete Grenzwerte gibt es keine: „So ganz streng sind wir nicht.“Ob durch Corona mehr Leute auf die Tafel angewiesen sind, stelle sich erst noch heraus: „Wenn es im kommenden Jahr eine Arbeitslos­enwelle gibt – dann merken wir das auch.“

Viele neue Gesichter im Team der Tafel

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Ulrike Tiefenbach (vorne rechts) mit einem Teil der Helfer und Helferinne­n der Tafel in Illertisse­n. Vor allem frisches Obst und Gemüse sind sehr begehrt.
Foto: Alexander Kaya Ulrike Tiefenbach (vorne rechts) mit einem Teil der Helfer und Helferinne­n der Tafel in Illertisse­n. Vor allem frisches Obst und Gemüse sind sehr begehrt.
 ??  ?? FREITAG, 13. NOVEMBER 2020
FREITAG, 13. NOVEMBER 2020

Newspapers in German

Newspapers from Germany