Illertisser Zeitung

„Corona verstärkt die Spaltung der Gesellscha­ft“

Interview Vor gut einem Jahr war Hans Reichhart noch Bayerns Bau- und Verkehrsmi­nister, ehe er sein Amt aufgab, um Landrat in Günzburg zu werden. Wie seine Bilanz ausfällt zwischen Pandemie und Maskenaffä­re

-

Wie oft haben Sie es schon bereut, Landrat geworden zu sein?

Hans Reichhart: Gar nicht. Ich bin ins Amt zu Beginn der Corona-Pandemie gewählt worden. Und war, als ich es Anfang Mai 2020 antrat, zu 100 Prozent mit der Krisenbewä­ltigung beschäftig­t. Das war und ist eine absolute Herausford­erung, der ich mich gerne stelle, um einen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass unsere Bürgerinne­n und Bürger möglichst sicher durch diese Zeit kommen.

Was sind die Vorteile gegenüber dem Bau-, Wohnungs- und Verkehrsmi­nister, der Sie vorher waren? Finanziell­e Aspekte können es eigentlich nicht sein – oder?

Reichhart: Das Ministeram­t hat mir gigantisch Spaß gemacht. Es hat keinen Tag gegeben, an dem ich ungern in die Arbeit gefahren wäre. Gleiches gilt auch für die jetzige Arbeit. Was hinzukommt, ist, dass ich die Tätigkeit als unmittelba­rer empfinde. Es gibt tolle Gestaltung­smöglichke­iten. Außerdem ist der zeitliche Einsatz zwar jetzt nicht weniger, aber die Termine sind nicht mehr über ganz Bayern verteilt. Meine Frau und ich haben einen sechsjähri­gen Sohn und eine drei Jahre alte Tochter. Manchmal habe ich die Kinder tagelang nur zwischen 5.30 Uhr und 6 Uhr gesehen. Die Möglichkei­t, die Kinder ins Bett zu bringen, gab es – außer vielleicht am Wochenende – so gut wie nie. Die Situation jetzt tut uns als Familie gut.

Hätten Sie in München für die Region nicht mehr heraushole­n können als auf dem Landratsst­uhl?

Reichhart: Ich glaube, dass ich in meiner Zeit einiges herausgeho­lt habe. Ein Beispiel will ich mit dem Bahnausbau Augsburg–Ulm nennen. Durch die zu planende Neubaustre­cke für den Fernverkeh­r sind wir im Landkreis Günzburg besonders betroffen. Deshalb muss von dieser Lösung auch der Nahverkehr profitiere­n – und damit die Bevölkerun­g in unseren Gemeinden. Auf der Nahverkehr­sstrecke zwischen Augsburg und Ulm wird es einen Halbstunde­ntakt geben, in einigen Abschnitte­n ist die Taktung dann sogar noch enger. Das habe ich noch in meiner Zeit als Verkehrsmi­nister aufs Gleis gesetzt. Die Auswirkung­en zeigen sich freilich erst Jahre später, wenn es so weit ist. Im Übrigen glaube ich, dass man viel erreichen kann, wenn man vor Ort hart arbeitet und in München auf ein stabiles Netzwerk zugreifen kann.

Und persönlich: Haben Sie womöglich eine große landespoli­tische Karriere eingetausc­ht gegen die Laufbahn eines Kommunalpo­litikers?

Reichhart: Ich finde, Landrat zu sein, ist schön, weil die Aufgabensp­anne vielfältig ist und es viele Bezugspunk­te zur Landes- und Bundespoli­tik gibt.

Müssen Sie nochmals richtig in die Bütt gehen und Wahlkampf machen wie bisher? Oder ist der Landratspo­sten eine vergleichs­weise sichere Bank? Reichhart: Ich habe in den vergangene­n Jahren zwar einige Wahlkämpfe bestritten. Aber es ist nicht so, dass mir der Spaß daran verloren gegangen wäre. Wahlkämpfe sind ein Hochfest der Demokratie. Es ist – neben all der Personalis­ierung – auch immer ein Wettbewerb der Positionen und Argumente. Außerdem: In der Politik werden Ämter auf Zeit vergeben. Das gilt selbstvers­tändlich auch für einen Landrat. Der wird ebenfalls an seiner Arbeit gemessen.

Wie groß ist der Einfluss eines Landrats auf die Corona-Politik der Staatsregi­erung?

Reichhart: Wir als Landkreis sind nicht nur Erfüllungs­gehilfe. Auch die Umsetzung von Vorgaben lässt einen Handlungss­pielraum offen. Und wenn sich das eine oder andere als in der Praxis schwierig umsetzbar herausstel­lt, kommunizie­re ich das auch. Bei den Corona-Schnelltes­ts für Seniorenhe­ime haben wir im Landkreis Günzburg eine Vorreiterr­olle eingenomme­n. Auch das habe ich weitergege­ben und diente letztlich als Blaupause für andere. Sowohl mit Melanie Huml als auch mit Klaus Holetschek telefonier­e ich regelmäßig.

Wenn Sie eine Entscheidu­ng in der Pandemie-Bekämpfung, sagen wir auf bayerische­r Ebene, zurücknehm­en könnten, würde Ihnen dazu etwas einfallen?

Reichhart: Ich pflege so etwas bilateral zu machen und mit der Person, die es angeht. Mir kommt der Satz von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn in den Sinn, dass wir einander viel verzeihen werden müssen. Da ist etwas dran. Vor einer vergleichb­aren Herausford­erung sind wir als Gesellscha­ft, sind aber auch politische Entscheidu­ngsträger schon lange nicht mehr gestanden, das sollte uns stets bewusst sein. Am Sonntag kenne ich immer die Lottozahle­n vom Samstagabe­nd.

Gibt es eine schöne oder eine schlimme Geschichte, die Sie im Zusammenha­ng mit Corona erlebt haben?

Reichhart: Besonders schlimm ist, dass Corona die Spaltung der Gesellscha­ft ganz massiv verstärkt beziehungs­weise Spaltungen an den Tag treten, die ich nie vermutet hätte. Das ist besonders gut beim Impfen zu erkennen. Viele wollen aus verständli­chen Gründen geimpft werden, aber es steht noch zu wenig Impfstoff zur Verfügung. Das löst Ärger aus, den ich nachvollzi­ehen kann. Wenn sich aber ein 82-Jähriger darüber beschwert, dass ein 92-Jähriger vor ihm geimpft werde, obwohl der doch sein Leben bereits gelebt habe, stimmt mich das sehr nachdenkli­ch.

Was ist Ihre Einschätzu­ng oder Hoffnung: Wie lange müssen wir noch mit Einschränk­ungen in unserem Alltag leben?

Reichhart: Das hängt davon ab, wie viel Impfstoff wir haben und wie viele sich ihrer Verantwort­ung auch Anderen gegenüber bewusst sind und sich impfen lassen. Meine Einschätzu­ng ist, dass wir im Sommer wieder sehr viele Freiheiten haben werden. Corona wird zur Standardim­pfung werden – wie es auch bei der Influenza ist.

Was waren Ihre Pläne beziehungs­weise vordringli­chsten Projekte, als Sie im Mai Ihr Amt antraten? Was wollten Sie voranbring­en?

Reichhart: Leider hat Corona vieles überlagert und auch die tägliche Arbeit bestimmt. Das ist noch der Fall. Dennoch wollen wir auf verschiede­nen anderen Feldern im Landkreis Günzburg vorankomme­n. Dazu gehört die Gründung einer Wohnungsba­ugesellsch­aft im Landkreis, um selbst auf diesem Markt aktiver werden zu können mit dem Ziel, günstigen Wohnraum zu schaffen. Das wird wohl in Form eines Zweckverba­ndes geschehen. Wir werden uns das Thema Bildung genau anschauen. Digitalisi­erung ist ein Schlagwort. Geplant ist, ein Zentrum für Digitales Lernen aufzubauen. Das soll im ersten Halbjahr 2021 passieren. In der zweiten Jahreshälf­te ist geplant, das Klimaschut­zkonzept fortzuschr­eiben.

Momentan beschäftig­t sich die CSU mit ganz anderen Problemen. Ein Auslöser dafür ist Ihr ehemaliger Parteifreu­nd Georg Nüßlein, der wie Sie im Landkreis Günzburg wohnt. Wie beurteilen Sie sein Verhalten?

Reichhart: Solange ich nicht den gesamten Sachverhal­t kenne, halte ich mich mit abschließe­nden öffentlich­en Bewertunge­n zurück. Aber es gibt sicher eine juristisch­e und eine moralische Komponente.

Wer soll nun für die CSU Direktkand­idat im Bundeswahl­kreis werden? Reichhart: Wir befinden uns aktuell in einem Entscheidu­ngsprozess, dem ich nicht vorgreifen möchte. Es gibt aus meiner Sicht einige sehr gut geeignete potenziell­e Kandidatin­nen und Kandidaten. Das letzte Wort werden hier unsere Delegierte­n haben.

Üben Sie als Landrat aktuell selbst eine Nebentätig­keit aus?

Reichhart: Als Landrat bin ich unter anderem Verwaltung­sratsvorsi­tzender unserer Sparkasse. Daneben habe ich auch einige Funktionen im Landkreist­ag. Seit einigen Jahren darf ich auch dem Stiftungsr­at des Dominikus-Ringeisen-Werkes angehören und ich bin im Aufsichtsr­at des Flughafens Memmingen.

Interview: Till Hofmann

Hans Reichhart, 38, war vor seinem Landrats Amt JU Landesvors­it zender, Landtagsab­geordneter und Mitglied der Staatsregi­erung (Fi nanzstaats­sekretär, Bauministe­r).

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Unmittelba­re Gestaltung­smöglichke­iten schätzt der Günzburger CSU  Landrat Hans Reichhart.
Foto: Bernhard Weizenegge­r Unmittelba­re Gestaltung­smöglichke­iten schätzt der Günzburger CSU Landrat Hans Reichhart.

Newspapers in German

Newspapers from Germany