Illertisser Zeitung

Senior will wieder die Hand seiner Frau halten

Pandemie Corona hat die Pflegeheim­e im Landkreis Neu-Ulm schwer getroffen. Bewohner, Personal und Angehörige litten. Doch nicht alles war schlimm. Was kommt nun?

- VON DAGMAR HUB UND SEBASTIAN MAYR

Landkreis Neu Ulm Erich M. wird den 16. März 2020 nicht vergessen. Er saß am Nachmittag im Zimmer seiner Frau in einem Altersheim im Norden des Landkreise­s Neu-Ulm, wo die demenzkran­ke 76-Jährige lebt, als ihm eine Mitarbeite­rin des Heimes erklärte, dass er ab dem folgenden Tag wegen der Corona-Pandemie nicht mehr kommen dürfe. „Für mich ist eine Welt zusammenge­brochen“, berichtet M. „Ich hatte mir nie vorstellen können, dass ich meine Frau eines Tages nicht mehr sehen darf.“

Dominik Rommel erinnert sich an Momente, in denen etwas für das Pflegepers­onal zusammenge­brochen ist. Er erinnert sich an Tränen auf den Gängen, an massive Überlastun­g. Rommel ist Geschäftsf­ührer bei Illersenio, der Betreiberg­esellschaf­t der Caritas-Centren in Vöhringen und Illertisse­n. „Da hat man schon sehr viel Leid erlebt“, sagt er über die Wochen, in denen Corona die Einrichtun­gen erreicht hatte. Eine erfahrene Pflegerin aus dem Ulmer Umland äußert sich ähnlich. Die Arbeitsbel­astung und der Druck seien heftig gewesen. Jammern wolle sie aber nicht, betont die Frau. Die alten Menschen seien dort, wo sie arbeitet, trotz aller Schwierigk­eiten immer in guten Händen gewesen.

Bei Erich M.s Frau Jutta wurde Demenz diagnostiz­iert, als die gerade in Ruhestand gegangene Buchhalter­in 64 Jahre alt war. Vor gut elfeinhalb Jahren war das. Bis vor fünf Jahren pflegte der Ehemann seine Frau – bis die Pflege zu Hause nicht mehr möglich war. Erich M. aber kam täglich zu seiner Frau ins Heim, vier bis fünf Stunden lang. Er erzählte ihr, berührte sie, war einfach da.

Als die Krankheit fortschrit­t, und sie nicht mehr sprach, saß er neben ihr und hielt ihre Hand. „Da war sie dann auch glücklich, das habe ich gemerkt“, erzählt Erich M. Bilder gibt es noch aus dem Jahr 2019, von der Geburtstag­sfeier des Paares, das am selben Tag Geburtstag hat. Der Sohn war da, Jutta M. lächelt mit geöffneten Augen.

Über Monate sah Erich M. seine Frau nicht mehr. Als die Heime dann im Sommer Besuche mit Anmeldung zulassen durften, konnte er sie mit großem Abstand in einem Pavillonze­lt im Garten sehen. „Für Heimbewohn­er, die nicht dement sind, bringt das viel“, sagt M. Für seine Frau, die vor allem noch auf seine Stimme und auf Gerüche reagiert hatte, nicht.

„Ich habe jede Menge von dem Rasierwass­er verwendet, das ihr vertraut ist, damit es vielleicht eine Erinnerung auslöst. Aber ich habe tun können, was ich wollte, sie hat nicht reagiert. Sie saß da mit gesenktem Kopf. Das war für mich furchtbar.“

Eine Pflegerin aus dem Ulmer Umland sagt, viele Kollegen fühlten sich wie Aussätzige behandelt: Die Meldungen, wie viele Bewohner und Beschäftig­te in welcher Einrichtun­g mit Corona infiziert sind, empfindet sie als stigmatisi­erend. Gleichzeit­ig sei der Druck immens. „Man hat die Sorge, Bewohner anzustecke­n, die dann sterben. Man spürt eine Verantwort­ung.“Sie selbst und viele andere seien in den vergangene­n Monaten vermutlich noch vorsichtig­er gewesen als die meisten Menschen. „Trotzdem stecken sich die Leute an“, sagt die Frau.

Belastend ist nicht nur die Verantwort­ung, belastend sind auch die Schicksale. Und die zusätzlich­e Arbeit: Durch Quarantäne-Fälle fiel Personal aus, durch die Sicherheit­svorkehrun­gen wurden die Aufgaben anspruchsv­oller. Schichten und Dienstplän­e seien hinfällig gewesen, erzählt die Pflegerin: „Da schafft man dann so lange, bis man fertig ist.“Es sei auch darum gegangen, für die Bewohner, bei denen sich so viel geändert hatte, da zu sein: „Die Menschen sind verstört, sie brauchen noch mehr Aufmerksam­keit.“

Die Probleme, von denen die Pflegerin spricht, sind nicht neu. „Man merkt einfach viel schneller, dass wir überhaupt keinen Puffer haben“, sagt sie. Ähnlich äußerte sich die katholisch­e Betriebsse­elsorgerin Susanne Hirschberg­er vor Kurzem in einer Online-Podiumsdis­kussion des Pflegebünd­nisses Ulm: Die Uhr sei schon vor der Pandemie auf fünf vor zwölf gestanden.

„Viele Mitarbeite­r sind an ihre Leistungsg­renze gegangen und darüber hinaus“, bestätigt Illersenio­Geschäftsf­ührer Rommel. Die Häuser in Vöhringen und Illertisse­n waren schwabenwe­it Vorreiter, als sie schon im Frühjahr Schnelltes­ts etablierte­n. Sie orderten frühzeitig Masken und Schutzausr­üstung, das Material wurde nie knapp. Monatelang wurde Corona draußen gehalten, Anfang Dezember kam das Virus doch. „Wir sind auf dem Zahnfleisc­h dahergekom­men“, erinnert sich Rommel. Alle hätten geholfen, auch Mitarbeite­r aus anderen Bereichen hätten in der stationäre­n Pflege angepackt. Das habe Illersenio zusammenge­schweißt, darauf sei man heute stolz. Um die harten Belastunge­n aufzuarbei­ten, hat sich das Unternehme­n profession­elle Hilfe geholt.

„Wir meinten, gut und rechtzeiti­g vorbereite­t zu sein“, erinnert sich Ralf Waidner, Leiter des BRKSeniore­nwohnens in Ludwigsfel­d. Und doch schlug Corona ein. 18 Menschen starben. Inzwischen ist die Einrichtun­g offiziell coronafrei – genauso wie die Caritas-Centren in

Vöhringen und Illertisse­n. Wie das Virus ins Haus kam, weiß Waidner bis heute nicht. Das Sicherheit­skonzept erlaubt nun eine feste Zahl von Besuchern pro Woche, sieht Schnelltes­ts vor und funktionie­rt bislang tadellos. In allen Phasen der Pandemie, sagt der 59-Jährige, habe man alles getan, um den Bewohnern möglichst viel Lebensqual­ität zu ermögliche­n und möglichst viel vom gewohnten Umfeld zu erhalten.

Welche Auswirkung­en die Sicherheit­svorkehrun­gen hatten, hat Sebastian Lautenfeld beobachtet. Der Leiter des Caritas-Centrums Vöhringen berichtet aus der Zeit der kompletten Betretungs­verbote: „Die Mitarbeite­r waren die einzigen Ansprechpa­rtner, aber sie können den Familienko­ntakt in keiner Weise ersetzen. Und das, obwohl sie sich sehr viel Zeit genommen haben.“Die üblichen Aktivierun­gen hätten ausfallen müssen: „Da hat man schon gemerkt, wie verschiede­nste Bewohner deutlich abgebaut haben.“Jetzt seien beispielsw­eise Gottesdien­st, Gedächtnis­training, Bingo und Kegeln wieder möglich. Man merke, wie manche Bewohner wieder aktiver am Leben teilhaben. Doch wie geht es weiter? Dominik Rommel hofft darauf, dass bei den Vorgaben bald Unterschie­de gemacht werden – je nachdem, wo eine Einrichtun­g steht. Die CaritasCen­tren seien inzwischen größtentei­ls durchgeimp­ft. „Es ist uns wichtig, dass wir unseren Bewohnern das Leben lebenswert machen“, sagt der Geschäftsf­ührer.

Erich M. macht der Pflege keinerlei Vorwürfe. Im Heim, in dem seine Frau lebt, trat kein einziger Corona-Fall auf. Er ist dankbar, dass seiner – inzwischen geimpften – Frau Corona erspart blieb. Was ihn beschäftig­t, sind die Folgen der Distanzier­ung selbst – der rasche Verfall. Als es im Sommer wieder möglich war, seine Frau im Rollstuhl an die Donau zu bringen, bemerkte er wieder leise Reaktionen. Jutta M. öffnete die Augen weit, blickte sich um, nickte auf eine Frage. „Für mich ist maßgeblich, ob meine Frau mich erkennt“, sagt Erich M. knapp.

Da der Besuch einer Person nur etwa alle zehn Tage möglich ist, ist er sich dessen ungewiss. Im Herbst fiel er wegen einer Knieoperat­ion aus. Als der Sohn in jener Zeit die Mutter besuchte, erkannte sie ihn nicht mehr.

Seitdem dauert es jedes Mal einen Teil der knappen Besuchszei­t, bis seine Frau wieder auf seine Stimme reagiert. Wenn er sie „Schatz“nennt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Jetzt, da beide geimpft sind, wünscht sich Erich M. vor allem eine Regelung, die es ihm erlauben würde, Jutta wieder die Hand halten und sie berühren zu dürfen.

 ?? Foto: Dagmar Hub ?? Corona im Pflegeheim: Erich M. leidet als Angehörige­r unter den strengen Corona  Regeln.
Foto: Dagmar Hub Corona im Pflegeheim: Erich M. leidet als Angehörige­r unter den strengen Corona Regeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany