Senior will wieder die Hand seiner Frau halten
Pandemie Corona hat die Pflegeheime im Landkreis Neu-Ulm schwer getroffen. Bewohner, Personal und Angehörige litten. Doch nicht alles war schlimm. Was kommt nun?
Landkreis Neu Ulm Erich M. wird den 16. März 2020 nicht vergessen. Er saß am Nachmittag im Zimmer seiner Frau in einem Altersheim im Norden des Landkreises Neu-Ulm, wo die demenzkranke 76-Jährige lebt, als ihm eine Mitarbeiterin des Heimes erklärte, dass er ab dem folgenden Tag wegen der Corona-Pandemie nicht mehr kommen dürfe. „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen“, berichtet M. „Ich hatte mir nie vorstellen können, dass ich meine Frau eines Tages nicht mehr sehen darf.“
Dominik Rommel erinnert sich an Momente, in denen etwas für das Pflegepersonal zusammengebrochen ist. Er erinnert sich an Tränen auf den Gängen, an massive Überlastung. Rommel ist Geschäftsführer bei Illersenio, der Betreibergesellschaft der Caritas-Centren in Vöhringen und Illertissen. „Da hat man schon sehr viel Leid erlebt“, sagt er über die Wochen, in denen Corona die Einrichtungen erreicht hatte. Eine erfahrene Pflegerin aus dem Ulmer Umland äußert sich ähnlich. Die Arbeitsbelastung und der Druck seien heftig gewesen. Jammern wolle sie aber nicht, betont die Frau. Die alten Menschen seien dort, wo sie arbeitet, trotz aller Schwierigkeiten immer in guten Händen gewesen.
Bei Erich M.s Frau Jutta wurde Demenz diagnostiziert, als die gerade in Ruhestand gegangene Buchhalterin 64 Jahre alt war. Vor gut elfeinhalb Jahren war das. Bis vor fünf Jahren pflegte der Ehemann seine Frau – bis die Pflege zu Hause nicht mehr möglich war. Erich M. aber kam täglich zu seiner Frau ins Heim, vier bis fünf Stunden lang. Er erzählte ihr, berührte sie, war einfach da.
Als die Krankheit fortschritt, und sie nicht mehr sprach, saß er neben ihr und hielt ihre Hand. „Da war sie dann auch glücklich, das habe ich gemerkt“, erzählt Erich M. Bilder gibt es noch aus dem Jahr 2019, von der Geburtstagsfeier des Paares, das am selben Tag Geburtstag hat. Der Sohn war da, Jutta M. lächelt mit geöffneten Augen.
Über Monate sah Erich M. seine Frau nicht mehr. Als die Heime dann im Sommer Besuche mit Anmeldung zulassen durften, konnte er sie mit großem Abstand in einem Pavillonzelt im Garten sehen. „Für Heimbewohner, die nicht dement sind, bringt das viel“, sagt M. Für seine Frau, die vor allem noch auf seine Stimme und auf Gerüche reagiert hatte, nicht.
„Ich habe jede Menge von dem Rasierwasser verwendet, das ihr vertraut ist, damit es vielleicht eine Erinnerung auslöst. Aber ich habe tun können, was ich wollte, sie hat nicht reagiert. Sie saß da mit gesenktem Kopf. Das war für mich furchtbar.“
Eine Pflegerin aus dem Ulmer Umland sagt, viele Kollegen fühlten sich wie Aussätzige behandelt: Die Meldungen, wie viele Bewohner und Beschäftigte in welcher Einrichtung mit Corona infiziert sind, empfindet sie als stigmatisierend. Gleichzeitig sei der Druck immens. „Man hat die Sorge, Bewohner anzustecken, die dann sterben. Man spürt eine Verantwortung.“Sie selbst und viele andere seien in den vergangenen Monaten vermutlich noch vorsichtiger gewesen als die meisten Menschen. „Trotzdem stecken sich die Leute an“, sagt die Frau.
Belastend ist nicht nur die Verantwortung, belastend sind auch die Schicksale. Und die zusätzliche Arbeit: Durch Quarantäne-Fälle fiel Personal aus, durch die Sicherheitsvorkehrungen wurden die Aufgaben anspruchsvoller. Schichten und Dienstpläne seien hinfällig gewesen, erzählt die Pflegerin: „Da schafft man dann so lange, bis man fertig ist.“Es sei auch darum gegangen, für die Bewohner, bei denen sich so viel geändert hatte, da zu sein: „Die Menschen sind verstört, sie brauchen noch mehr Aufmerksamkeit.“
Die Probleme, von denen die Pflegerin spricht, sind nicht neu. „Man merkt einfach viel schneller, dass wir überhaupt keinen Puffer haben“, sagt sie. Ähnlich äußerte sich die katholische Betriebsseelsorgerin Susanne Hirschberger vor Kurzem in einer Online-Podiumsdiskussion des Pflegebündnisses Ulm: Die Uhr sei schon vor der Pandemie auf fünf vor zwölf gestanden.
„Viele Mitarbeiter sind an ihre Leistungsgrenze gegangen und darüber hinaus“, bestätigt IllersenioGeschäftsführer Rommel. Die Häuser in Vöhringen und Illertissen waren schwabenweit Vorreiter, als sie schon im Frühjahr Schnelltests etablierten. Sie orderten frühzeitig Masken und Schutzausrüstung, das Material wurde nie knapp. Monatelang wurde Corona draußen gehalten, Anfang Dezember kam das Virus doch. „Wir sind auf dem Zahnfleisch dahergekommen“, erinnert sich Rommel. Alle hätten geholfen, auch Mitarbeiter aus anderen Bereichen hätten in der stationären Pflege angepackt. Das habe Illersenio zusammengeschweißt, darauf sei man heute stolz. Um die harten Belastungen aufzuarbeiten, hat sich das Unternehmen professionelle Hilfe geholt.
„Wir meinten, gut und rechtzeitig vorbereitet zu sein“, erinnert sich Ralf Waidner, Leiter des BRKSeniorenwohnens in Ludwigsfeld. Und doch schlug Corona ein. 18 Menschen starben. Inzwischen ist die Einrichtung offiziell coronafrei – genauso wie die Caritas-Centren in
Vöhringen und Illertissen. Wie das Virus ins Haus kam, weiß Waidner bis heute nicht. Das Sicherheitskonzept erlaubt nun eine feste Zahl von Besuchern pro Woche, sieht Schnelltests vor und funktioniert bislang tadellos. In allen Phasen der Pandemie, sagt der 59-Jährige, habe man alles getan, um den Bewohnern möglichst viel Lebensqualität zu ermöglichen und möglichst viel vom gewohnten Umfeld zu erhalten.
Welche Auswirkungen die Sicherheitsvorkehrungen hatten, hat Sebastian Lautenfeld beobachtet. Der Leiter des Caritas-Centrums Vöhringen berichtet aus der Zeit der kompletten Betretungsverbote: „Die Mitarbeiter waren die einzigen Ansprechpartner, aber sie können den Familienkontakt in keiner Weise ersetzen. Und das, obwohl sie sich sehr viel Zeit genommen haben.“Die üblichen Aktivierungen hätten ausfallen müssen: „Da hat man schon gemerkt, wie verschiedenste Bewohner deutlich abgebaut haben.“Jetzt seien beispielsweise Gottesdienst, Gedächtnistraining, Bingo und Kegeln wieder möglich. Man merke, wie manche Bewohner wieder aktiver am Leben teilhaben. Doch wie geht es weiter? Dominik Rommel hofft darauf, dass bei den Vorgaben bald Unterschiede gemacht werden – je nachdem, wo eine Einrichtung steht. Die CaritasCentren seien inzwischen größtenteils durchgeimpft. „Es ist uns wichtig, dass wir unseren Bewohnern das Leben lebenswert machen“, sagt der Geschäftsführer.
Erich M. macht der Pflege keinerlei Vorwürfe. Im Heim, in dem seine Frau lebt, trat kein einziger Corona-Fall auf. Er ist dankbar, dass seiner – inzwischen geimpften – Frau Corona erspart blieb. Was ihn beschäftigt, sind die Folgen der Distanzierung selbst – der rasche Verfall. Als es im Sommer wieder möglich war, seine Frau im Rollstuhl an die Donau zu bringen, bemerkte er wieder leise Reaktionen. Jutta M. öffnete die Augen weit, blickte sich um, nickte auf eine Frage. „Für mich ist maßgeblich, ob meine Frau mich erkennt“, sagt Erich M. knapp.
Da der Besuch einer Person nur etwa alle zehn Tage möglich ist, ist er sich dessen ungewiss. Im Herbst fiel er wegen einer Knieoperation aus. Als der Sohn in jener Zeit die Mutter besuchte, erkannte sie ihn nicht mehr.
Seitdem dauert es jedes Mal einen Teil der knappen Besuchszeit, bis seine Frau wieder auf seine Stimme reagiert. Wenn er sie „Schatz“nennt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Jetzt, da beide geimpft sind, wünscht sich Erich M. vor allem eine Regelung, die es ihm erlauben würde, Jutta wieder die Hand halten und sie berühren zu dürfen.