Wells: Außenseiter wird Insider
Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut Kiepenheuer & Witsch, 192 Seiten, 19 Euro
ESchon sein Auftreten war immer ein gezielter Affront. Abschätzig, provozierend vor allem gegenüber den deutschen Großautoren der 60er und der „Gruppe 47“. Die Literatur der Gegenwart war für
(1940–1975) der Sound der Beat Generation in den USA machte und die Äs thetik des „Nouveau Roman“in Frankreich. Also brachte er sie ins Deutsche, dichtete selbst radikal, collagierte auch Obszönes und Alltägliches zu „Materialiensamm lungen“– und wurde tatsächlich rich tungsweisend. Mit Pop als Gegenkultur, die U wie unterhaltend sehr E wie ernst haft nahm. Eine Trennung? Lächerlich! s gibt Bücher, bei denen kann man sich nicht entscheiden, welches besondere Zitat man denn auswählen möchte, weil es einfach zu viele davon gibt, man auf jeder Seite den Stift ansetzen möchte, weil da wieder Geistreiches auftaucht, man aber lieber weiterliest, weil der Text so mitreißend und lustig ist und das ganze Unterstreichen einen nur bremsen würde. Kurzum: Sophie Passmann hat mit „Komplett Gänsehaut“genau so ein Buch geschrieben – und hat damit quasi nachgelegt.
2019 hat die Autorin, Moderatorin und Satirikerin mit dem Bestseller „Alte weiße Männer – ein Schlichtungsversuch“für Aufsehen gesorgt, in dem die Feministin Promi-Herren auf den Zahn fühlt. „Beweis erbracht: Unbestechlichen Feminismus gibt es auch in lustig. Sogar in sehr lustig“, jubelte die Journalistin Anne Will über die junge Frau, die multimedial unterwegs ist und zu Recht als „Stimme ihrer Generation“, der Millennials, gefeiert wird.
Einem Teil dieser Generation fühlt sie nun in ihrem neuen Buch auf den Zahn. Es ist eine Art Abrechnung mit den Mittelstandskids, die in den 1980ern und 1990er Jahren geboren wurden, und all den
Luxusproblemen eines Wohlstandsmilieus. Sie hätte wie die US-Amerikanerin Jia Tolentino („Trick Mirror“– siehe Sachbuchseite) Essays oder ein Sachbuch darüber schreiben können – aber sie entschied sich für Literatur, weil sie dann mehr Freiheiten hat, mehr spielen und überziehen kann. Also erfand Sophie Passmann eine Ich-Erzählerin, mit der sie zwar einiges gemeinsam hat – Alter, Beruf, Sozialisation, Feministin – aber nun mal nicht alles. Vor allem nicht den Weltekel.
Die Ich-Erzählerin also macht mit 27 Jahren, einem Alter, in dem manch Musikgröße schon das Zeitliche gesegnet hat, eine Art Lebensinventur und begibt sich in einem inneren Monolog vom Kleinsten ins Größte: Wohnung, Straße, Stadt. Der rote Faden: Gezeter, Frust, Wut. Ein Millennial würde vielleicht sagen: Da kotzt sich eine gewaltig aus. Denn die Erzählerin stellt angesichts ihrer verhassten neuen Wohnung („Es ist richtig scheiße hier“), ihres teuren Designerregals, ihrer maximal kohortenlangweiligen alles kaputtreflektierenden Freunde, ihres gentrifizierten Kiezes irgendwie verloren fest, dass sie sich das Erwachsenwerden so nicht vorgestellt hat. Quasi: Zu viel Spießertum und Hochstapler
Leere, zu wenig Spaß und Spannung. Oder: Alles doof und sie mittendrin, gar Teil des Ganzen. „Unser ganzes Leben ist so, als würden wir kurz vor dem Einschlafen keine gemütliche Liegeposition finden“, sagt sie in ihrem Redeschwall. Oder: „Pathos und Scham. Wenn man diesen beiden Gefühlen Sneakers anzieht, hat man jede Jugend.“Oder: „An guten Tagen schwant uns, dass uns niemand zwingt, uns anzumalen und diese Strumpfhosen anzuziehen, die den Bauch in Richtung der überlebenswichtigen Organe drücken…“Bäm! Solche verbalen Klatschen gibt es auf fast jeder Seite, wütend-witzig, nicht wütend-verbittert, verpackt in schier endlos lange Sätze.
Das Buch liest sich wie ein langer Poetry-Slam-Auftritt einer jungen, unzufriedenen Frau. „Es geht immer nur um das, was fehlt, alles andere haben wir immer da“, konstatiert die Ich-Erzählerin. Diesem Buch aber fehlt nichts. Höchstens vielleicht eine Fortsetzung. Aber da gibt es möglicherweise Hoffnung. In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland antwortete Sophie Passmann unlängst auf die Frage, was ihr Hoffnung mache, mit: „Ich schreibe in 25 Jahren den zweiten Teil dieses Buches. Ich hab gehört, das läuft bei Popliteraten ganz gut.“Schlagfertig, klug, lustig – typisch Passmann. Man möchte mehr und wünscht sich: Hoffentlich ist an dem Witz über Popliterat Christian Kracht und die aktuell erschienene Fortsetzung seines Barbour-Jacken-Bestsellers „Faserland“etwas Wahres dran. Mit „Komplett Gänsehaut“jedenfalls hat Sophie Passmann jetzt schon einmal ein grandioses Buch abgeliefert, das Wucht und Zündstoff beinhaltet. Das ist Popliteratur einer neuen Generation. Lea Thies
Literatur war für (1935–1986) eine konkret künstlerische Ethnografie der Gegenwart. Ist das nicht genau: Pop? Was das für ihn hieß, zeigte er etwa 1968 mit dem Roman „Die Palette“, tief ins Zwielicht der Gammler, Bohemiens und Hafenarbei tern leuchtend (Hallo, Heinz Strunk?). Seine Erkun dungen der alle Wahrheit lehrenden Wirklichkeit gingen von St. Pauli bis in den Senegal. Sein Traum, 19 bändig „Die Geschichte der Empfind lichkeit“vorzulegen, blieb unvollendet. Der Titel allein müsste der Name der Anthologie al ler Pop Literatur sein.
Benedict Wells: Hard Land Diogenes, 353 Seiten, 24 Euro
Felicitas Hoppe: Fieber 17 Dörlemann, 96 Seiten, 15 Euro
Fünf Jahre hat Benedict Wells an Hard Land geschrieben, war dafür einige Monate lang in den USA unterwegs und hat „wirklich jeden einzelnen Coming-of-Age-Film der 80’s geschaut“. „Ich habe für dieses Buch alles gegeben, was ich konnte, sagt der Bestsellerautor. „Und ehrlich gesagt habe ich gerade diese Geschichte, diese Figuren, diesen Ort und dieses Coming-of-Age-Genre so geliebt wie fast nichts bisher beim Schreiben.“Der Roman „Hard Land“erzählt nun ein Jahr im Leben des 16-jährigen Sam, ein scheuer einsamer Junge. Seine Mutter hat Krebs und die Angst, sie zu verlieren, überschattet sein ganzes Leben, bis er als Aushilfe im Kino neue Freunde kennenlernt, die älter sind, erfahrener, abgeklärter. Das Trio nimmt Sam unter seine Fittiche und die sprunghafte Kirstie wird seine erste Liebe. Der Außenseiter wird zum Insider: „… und ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig, und wach und mittendrin und unsterblich.“
Benedict Wells kann schreibend nicht nur amerikanische Käffer ausleuchten, sondern auch in Gefühlswelten abtauchen, ohne im Pathos zu versinken. Manches ist trotzdem ein Balanceakt auf Messers Scheide. Doch Wells entgeht allen Absturzgefahren, indem er Sam erzählen lässt – zuerst zaghaft, dann immer beherzter und mit wachsendem Selbstbewusstsein. Ein wunderbarer Coming-of-Age-Roman, emotional packend und voller Lebensmut.
Lilo Solcher