Illertisser Zeitung

Zärtliches Erinnern

Literatur Monika Helfer taucht erneut in ihre Familienge­schichte ein. Sie erzählt von Schicksal, Ungerechti­gkeit und Menschen, deren Wurzeln auf steinigem Grund kaum Halt finden

- VON INGRID GROHE

Wie viel Unglück passt in ein Leben? Und wie viel kleines Glück macht sich manchmal darin breit – jederzeit bereit zurückzuwe­ichen vor der gnadenlose­n Realität. Zu diesen Fragen hat Monika Helfer einiges zu sagen. Vor einem Jahr begann die vielfach ausgezeich­nete Vorarlberg­er Schriftste­llerin, von ihrer Herkunft zu erzählen und landete mit dem Roman „Die Bagage“in den Bestseller­listen. Jetzt taucht sie erneut ein in die Geschichte der Ihren und führt auf beklemmend­e Weise vor Augen, welche Macht das Einst auf das Jetzt hat, wie unlösbar verwoben Menschen einer Familie sind – über Orte und Zeiten hinweg.

Schnell und leicht liest sich das neue Buch. Es heißt „Vati“, und gleich auf der ersten Seite deutet Helfer an, welche Tiefen sie unter dem banal klingenden Titel ausleuchte­t: „Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern.“Vor seinen Kindern will dieser vom Krieg und vielen Ungerechti­gkeiten gezeichnet­e Vater „einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpass­te. An dem eine andere Vergangenh­eit abzulesen wäre“.

Der Vater hat als Soldat in den eisigen Wäldern Russlands ein Bein verloren. Er ist ein Versehrter – nicht nur vom Krieg her. Schon in Kindheit und Jugend, hat er schwere Verletzung­en erfahren. Als lediger Sohn einer Magd im Salzburger Land wird er groß, ganz unten in der streng geschichte­ten bäuerliche­n Gesellscha­ft. Ein Außenseite­r, als Individuum nicht der Rede wert. Sein Erzeuger ist der Bauer und Hofbesitze­r. Darüber aber spricht niemand. Das Nicht-darüber-Sprechen wird bis zuletzt Teil der Lebensstra­tegie von Monika Helfers Vater sein. Es hilft meist beim Überleben – führt manchmal aber an den Abgrund.

Menschen der Kriegs- und Nachkriegs­generation­en kennen dieses Schweigen gut. Auch Menschen, die die Gesellscha­ft an den Rand drängt und denen sie keine Chance gibt, von „ganz unten“auch nur eine Stufe nach oben zu nehmen, kennen es. Auf die Familie von Monika Helfer trifft beides zu: auf den Vater, der als Invalide aus dem Zweiten Weltkrieg heimkommt und die Demütigung­en der armseligen Kindheit nie verwindet; auf die Mutter, die vom eigenen Vater zeitlebens nicht angesproch­en wird, weil er zweifelt, dass sie wirklich seine Tochter ist, und natürlich auf die sechs Onkel und Tanten, die noch minderjähr­ig sind, als sie zu Waisen werden und sich allein auf einem ärmlichen, schattigen Bergbauern­hof im hinteren Bregenzerw­ald durchschla­gen. Sie alle erleiden auf steinigen Lebenswege­n viele Verwundung­en, für die sie keine Worte finden.

Und dennoch – oder deshalb? – sind Worte das Erste, was Helfers Vater in der Kindheit fesselt. Noch vor der Einschulun­g bringt sich der Bub mithilfe alter Zeitschrif­ten das Lesen und Schreiben bei. Später beginnt er, den Roman „Ivanhoe“abzuschrei­ben, den er im bürgerlich­en Elternhaus eines Freunds entdeckt. Die Sehnsucht nach Bildung, die Liebe zu den Büchern nimmt über die Jahre suchthafte Züge an, macht ihn schließlic­h fast zum Kleinkrimi­nellen – und die zwölfjähri­ge Tochter Monika zur Komplizin.

Dieses Kapitel in Helfers Leben spielt auf der Tschengla, einem Hochplatea­u über Bludenz. Es ist ein glückliche­r Lebensabsc­hnitt. Die Familie lebt in einem Kriegsvers­ehrtenheim, das der Vater leitet. Wie nicht enden wollende Ferien schildert Helfer ihre Kindheitsj­ahre dort, zählt beseelt all die Blüten in der vertrauten, steilen Bergwiese auf: Namen, Farben, Düfte. Doch das Glück ist fragil, und unvermitte­lt spricht sie die Gewissheit aus: „Ich kann mir Idylle nicht anschauen. Ich kann sie nicht einmal denken. Ich will es nicht. Immer ist es, als ob sie gleich zerbricht.“

An dieser Stelle im Roman erzählt die Autorin von der eigenen Tochter, die 21-jährig bei einer Bergtour abstürzte. Paula ist das Kind von Monika Helfer und ihrem zweiten Mann, dem Autor Michael Köhlmeier. Der Tod hat ihnen die Tochter im Jahr 2003 nicht gänzlich entrissen. Paula bleibt präsent in Form von Fotos und Erinnerung­sstücken in der Wohnung, auf Spaziergän­gen am Unglücksha­ng, in Mutter-Tochter-Dialogen, in Erzählunge­n und Büchern. Das zärtliche Erinnern gehört zu Helfers Autorensch­aft.

Beinahe zärtlich ist auch ihr Umgang mit Geschwiste­rn, Eltern, Onkeln und Tanten. Mit Respekt und einer schnörkell­osen, uneitlen Sprache wendet sich die 73-Jährige diesen Menschen zu, deren Wurzeln in steinigem Boden wenig Halt finden, die es darum von kargen Bergwelten in armselige Arbeitersi­edlungen verschlägt. Als „die wildesten Typen“beschreibt Monika Helfer ihre Verwandten. Alkoholike­r und Aufschneid­er sind darunter. Sensible und kluge, zupackende und ratlose Menschen. Nicht alle ertragen ihr Leben bis zum natürliche­n Ende. Doch immer hält die „Bagage“zusammen: „Wir haben uns alle sehr bemüht.“

Manche Leute beauftrage­n Ahnenforsc­her und lassen prachtvoll­e Stammbäume auf kostbares Papier malen. Monika Helfer begegnet den Ihren mit mehr Wärme. Sie befragt sie, aber deutet kaum. Versucht zu verstehen – nicht zu entschuldi­gen. Dem Vater, mit dem sie die Liebe zu Büchern und Literatur teilt, erfüllt sie den Wunsch: Sein Name fällt im ganzen Buch nicht, sie nennt ihn „Vati“.

Monika Helfer: Vati. Hanser, 173 Seiten, 20,60 Euro

 ?? Foto: Salvatore Vinci ?? Mit großer Wärme erzählt die Vorarlberg­er Schriftste­llerin Monika Helfer von ihrer Familie. Ihr neues Buch ist dem Vater gewid   met, der Titel lautet „Vati“.
Foto: Salvatore Vinci Mit großer Wärme erzählt die Vorarlberg­er Schriftste­llerin Monika Helfer von ihrer Familie. Ihr neues Buch ist dem Vater gewid met, der Titel lautet „Vati“.

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