Sorgenkind AstraZeneca
Corona Nachdem die Zahl seltener Nebenwirkungen bei jüngeren Frauen zunimmt, schwenkt auch Deutschland um. Warum der Impfstoff dennoch für Ältere eine gute Alternative bleibt
Berlin Immer Ärger mit AstraZeneca könnte man meinen, doch am Anfang der wechselvollen Geschichte des Corona-Impfstoffs stand eine fast schon noble Geste: Der aus einer Fusion hervorgegangene britischschwedische Konzern ist eigentlich als einer der international größten Arzneimittelhersteller in der Krebsmedizin zu Hause und wollte mit seinem Impfstoff der Welt etwas Gutes tun. Ohne Gewinnabsicht, so hieß es, wollte AstraZeneca den von der britischen Elite-Universität Oxford entwickelten Corona-Impfstoff billig, einfach und schnell für möglichst viele Menschen der Welt produzieren. Inzwischen leidet der Ruf des Namens AstraZeneca in der EU. Lieferprobleme, Studienfehler und seit kurzem seltene Todesfälle nach Impfungen.
In Ulm starb eine 48-jährige Frau, im Allgäu eine 55-jährige Krankenpflegerin, in Tirol eine 49-jährige Kollegin, im nordrheinwestfälischen Herford eine 32-jährige Klinikpsychologin. Alle litten an Hirnvenenthrombosen, die mutmaßlich als Reaktion auf die AstraZeneca-Impfung auftraten. Es sind seltene Fälle, aber sie häufen sich.
Am Dienstag teilte das für die Impf-Sicherheit zuständige PaulEhrlich-Institut mit, dass bis Montag in Deutschland 31 Fälle einer Sinusvenenthrombose nach Impfung mit dem Impfstoff von AstraZeneca bestätigt wurden. In 19 Fällen wurde festgestellt, dass es zugleich einen
Mangel an Blutplättchen gab. Diese sogenannte Thrombozytopenie führen Mediziner auf eine Immunreaktion auf den Impfstoff zurück: Vereinfacht ausgedrückt setzt der Körper irrtümlich eine Blutgerinnungsreaktion in Kraft, die im Normalfall dafür sorgt, dass Wundschorf eine Blutung stillt. Da diese Reaktion jedoch bei den Nebenwirkungen auch in Gehirnvenen auftritt, wird sie unbehandelt lebensgefährlich.
Auch beim Impfstoff von Biontech wurden nach Informationen unserer Redaktion bislang zwei Fälle einer sogenannten Sinusvenenthrombose gemeldet. Die Betroffenen waren 47 und 86 Jahre alt. Weil aber bei ihnen kein Mangel an roten Blutplättchen festgestellt wurde, halten Experten die Fälle für zufällig, da Sinusvenenthrombosen in der Regel bei einem von 200 000 Bundesbürgern im Jahr als Erkrankung diagnostiziert werden.
Nachdem diese Woche in Euskirchen zwei weitere Thrombose-Fälle nach Impfungen mit AstraZeneca auftraten, verhängten mehrere Kliniken einen Impfstopp mit dem Mittel. Parallel dazu hatte die Ständige Impfkommission – abgekürzt Stiko – seit Tagen die Fälle untersucht und bereits eine Empfehlung erarbeitet. Sie geht einerseits über die Einschränkungen in Frankreich hinaus, wo seit knapp zwei Wochen keine Frauen unter 55 Jahren mit AstraZeneca geimpft werden. Die Stiko empfiehlt auch nicht nur Frauen, sondern auch Männer unter 60 nicht mehr mit dem Impfstoff zu impfen, außer Betroffene wollen es ausdrücklich und werden von ihrem Arzt über die Risiken aufgeklärt.
„Basierend auf der momentanen Datenlage empfiehlt die Stiko im Regelfall die Impfung mit der Covid-19 Vaccine AstraZeneca nur Menschen im Alter über 60 Jahre, da in dieser Altersgruppe aufgrund der ansteigenden Letalität einer Covid-19-Erkrankung die Nutzen-Risiko-Abwägung eindeutig zuguns
Jüngere sollen nun mit Biontech geimpft werden
ten der Impfung ausfällt“, heißt es im Schreiben der Stiko. „Der Einsatz der AstraZeneca-Vaccine unterhalb dieser Altersgrenze bleibt indes nach ärztlichem Ermessen und bei individueller Risikoakzeptanz nach sorgfältiger Aufklärung möglich.“Doch in der Praxis sei es kein Problem, derzeit berechtigte jüngere Menschen mit anderen Impfstoffen zu impfen.
Am Dienstag standen den Impfzentren je 1,2 Millionen Dosen von Biontech und AstraZeneca plus 538 000 Dosen von Moderna zur Verfügung. Nun schwenkt die Impfkommission um, nachdem sie anfangs über 65-Jährige von den AstraZenca-Impfungen ausgeschlossen hatte. Das mit Studien in der Impfmittel-Entwicklung unerfahrene Unternehmen hatte zu wenige ältere Teilnehmer in ihre Zulassungstests aufgenommen.
Doch die Zahlen aus Großbritannien, wo 27 Millionen überwiegend alte Menschen vor allem mit AstraZeneca geimpft wurden, zeigen, dass der Impfstoff für Menschen über 65 Jahre sicherer ist, als für jüngere, wie der Dortmunder Immunologe Carsten Watzl erklärt. Bei über elf Millionen AstraZeneca-Impfungen sei keine Häufung von Sinusvenenthrombosen in einem zeitlichen Zusammenhang aufgefallen.
„Idealerweise sollte der betroffene Personenkreis möglichst rasch von der Impfung mit AstraZeneca ausgenommen werden“, sagt Immunologe Watzl. „Die Alternative ist ja nicht, dass solche Personen gar nicht geimpft werden, man kann sie dann mit den mRNA Impfstoffen impfen und hätte mehr Sicherheit für alle“, betonte der Professor. Deutschland brauche den Impfstoff, um schnell möglichst viele Menschen gegen die immer stärker anrollende dritte Welle zu schützen. Eine Erstimpfung mit AstraZeneca schütze sogar noch besser vor Krankenhausaufenthalten als beim Mittel von Biontech und schließe tödliche Krankheitsverläufe fast komplett aus, betont Watzl.
Bald gibt es ohnehin deutlichen Nachschub: Wie AstraZeneca am Dienstag erklärte befinden sich im ominösen Lager in Italien 29 Millionen-Impfdosen zur abschließenden Sicherheitskontrolle, von denen 16 Millionen in den nächsten Wochen an die EU geliefert werden. Der Rest gehe an das weltweite Impfhilfsnetzwerk Covax, das Impfstoff in ärmere Länder bringt.