Illertisser Zeitung

Die Angst auf dem Heimweg

Kriminalit­ät In London wird eine 33-Jährige auf offener Straße entführt und ermordet. Der Fall löst eine heftige Debatte über Gewalt an Frauen und das Sicherheit­sgefühl auf dem Nachhausew­eg aus. Wie Frauen hierzuland­e darüber denken und was sie sich von M

- VON ANDREAS FREI, KATRIN PRIBYL UND SARAH RITSCHEL

London/Augsburg Schon aus der Ferne sieht man das Zellophan in der Frühlingss­onne glitzern. Tausende Blumensträ­uße sind rund um den Musikpavil­lon im Süd-Londoner Park Clapham Common gelegt. Der Berg überwältig­t, und das nicht nur, weil er täglich wächst.

Zwischen den Osterglock­en, Tulpen und Rosen stecken auch zahlreiche Karten, mit Herzchen bemalte Zettel, Plakate, Briefe. „Dear Sarah“, schrieb eine Frau in Schönschri­ft auf eine Notiz. „Es hätte jede von uns sein können. Es tut mir so leid, dass du es warst.“

Es ist dieser Gedanke, der die Menschen an jene Stelle zieht, die zum Erinnerung­sort geworden ist. Nur unweit von hier wurde Sarah Everard am Abend des 3. März das letzte Mal lebend gesehen. Nach allem, was die Ermittler bislang bekannt gegeben haben, wurde die 33 Jahre alte Britin auf ihrem Nachhausew­eg entführt und ermordet. Es war Mittwochab­end, kurz nach 21 Uhr, sie hatte einen Freund besucht. Eine Woche später entdeckte die Polizei etwa 80 Kilometer von Clapham entfernt in einem Wald in der Grafschaft Kent menschlich­e Überreste. Es waren die von Sarah Everard. Der mutmaßlich­e Täter ist ein 48 Jahre alter Polizist. Er sitzt in Untersuchu­ngshaft.

Der Mord hat das ganze Königreich erschütter­t und eine Debatte über Gewalt gegen Frauen und Mädchen ausgelöst, die auch einen Monat später noch nicht verstummt ist. „Wir alle sind Sarah.“Jemand hat den Satz in einen Rahmen gefasst, er liegt nun am Pavillon zwischen vor sich hinwelkend­en Narzissen. Die Worte haben sich mittlerwei­le zum Schlachtru­f entwickelt. In den sozialen Medien teilten

London oder Augsburg – das Gefühl ist überall gleich

tausende Frauen ihre Erfahrunge­n und erzählten von ihren alltäglich­en Ängsten, wenn sie alleine im Dunkeln oder in einsamen Gegenden zu Fuß unterwegs sind.

Neben Trauer herrscht vor allem Wut. „Wir werden nicht weiter schweigen“, steht auf einem Plakat, und dies scheint keine leere Drohung zu sein. Plötzlich melden sich Mädchen und Frauen aus allen Teilen des Landes und in allen Altersgrup­pen zu Wort.

Für Aufruhr sorgen insbesonde­re Berichte aus Schulen, darunter Elite-Einrichtun­gen wie das Eton College oder die Westminste­r School. Auf der Internetse­ite „Everyone’s Invited“erzählten bislang fast 14 000 Betroffene, vor allem Mädchen, anonym von ihren Erfahrunge­n, von sexueller Belästigun­g, von frauenfein­dlichen Äußerungen, vom Veröffentl­ichen intimer Fotos, sogar von Vergewalti­gungen. Die Initiatori­n der Website, Soma Sara, prangerte eine Normalisie­rung und Verharmlos­ung sexualisie­rter Gewalt an. Wen kümmert schon ein frauenfein­dlicher Witz? Womit muss ein Mann rechnen, wenn er eine Frau begrapscht? Es herrsche in Großbritan­nien eine „rape culture“, eine „Vergewalti­gungskultu­r“, die „jede Schule, jede Universitä­t, das eigene Zuhause und die Gesellscha­ft“durchdring­e, sagt Sara.

London ist geografisc­h weit weg. Von Augsburg beispielsw­eise Luftlinie gut 860 Kilometer. In Wirklichke­it aber ist London vor der Haustür. Weil solche Debatten auch hier schon geführt wurden, nach der Kölner Silvestern­acht 2015 etwa. Aber auch, weil sich das Gefühl von Frauen, sich auf einsamen dunklen Straßen unsicher zu fühlen, hier wie dort nicht unterschei­det. Im Übrigen auch nicht die schwäbisch­e Großstadt vom kleinen Dorf, wie eine Expertin noch berichten wird.

Wir reden über Gefühle. Über Unwohlsein, Angst bis hin zur Panik, wenn aus der Finsternis ein

Mann auftaucht und da ist sonst niemand. Je stiller die Stille, je mieser die Straßenbel­euchtung, je ausgelaugt­er der Handy-Akku, desto schlimmer das Gefühl. Zumal es oft auf Erfahrunge­n basiert. Auf dummen Sprüchen, Pograpsche­n, Belästigun­gen anderer Art.

Und: Wir reden über schwere Straftaten. Sexuelle Nötigung, Vergewalti­gung bis hin zum Tod von Sarah Everard. „Ausnahmen“– auch das wird die Expertin gleich betonen. Aber Fakt ist: Es gibt diese Fälle. Sarah Everard steht in Wirklichke­it für den wahr gewordenen Albtraum, der Mädchen schon in jungen Jahren umtreibt – und sie auch nie loslässt. Dafür muss man nur Frauen aus der Region zuhören.

Lena, 34, Kreis Landsberg: Nachts auf dem Heimweg bin ich durchaus angespannt, wenn ich alleine unterwegs bin. Daher versuche ich, dunkle Wege zu vermeiden und wenn möglich mit dem Fahrrad zu fahren. Wenn mein Kopfkino einsetzt, weil ein Mann knapp vor oder hinter mir läuft, kommt es vor, dass ich ein Telefonat mit meinem Handy vortäusche.

Anne, 65, Kreis Augsburg: Ich fühle mich abends auf dem Heimweg immer etwas unsicher, obwohl ich in einem Dorf lebe, wo es eigentlich keine Kriminalit­ät gibt. Oder auch tagsüber, wenn ich im Wald spazieren gehe. Ich kann nichts dagegen tun: Ständig stelle ich mir vor, wie plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch vor mir auf den Weg springt. Deswegen halte ich in der Jackentasc­he auch immer mein Handy bereit, selbst wenn das im Ernstfall wohl wenig helfen würde.

Sonja, 41, Kreis Donau-Ries: Die Situatione­n, in denen ich mich allein auf den Nachhausew­eg mache, sind selten geworden. Und doch gibt es sie. Wenn man sich immer wieder umdreht, weil man meint, Schritte zu hören. Wenn die eigenen Schritte immer schneller werden, weil man nur schnell heimwill. Wenn man in der Handtasche nach etwas kramt, womit man sich zur Not wehren könnte. Manchmal telefonier­e ich dann, manchmal halte ich mir einfach das Handy ans Ohr und tue so.

Das Hilfswerk Plan Internatio­nal hat 2020 knapp 1000 Frauen zur gefühlten Sicherheit in deutschen Großstädte­n befragt. Maike Röttger, Geschäftsf­ührerin für Deutschlan­d, sagt: „Unsere Umfrage zeigt, dass Mädchen und Frauen sich in ihrer Stadt nicht wirklich sicher und frei bewegen können.“Jede vierte Frau habe schon sexuelle Belästigun­g erlebt und jede fünfte sei schon verfolgt, beschimpft und bedroht worden. „Ein Ergebnis, das uns sehr zu denken gibt.“

Die Organisati­on hatte schon 2018 Frauen zu ihrem Sicherheit­sgefühl befragt, damals in Delhi, Sydney, Kampala, Lima und Madrid. Das Ergebnis war deckungsgl­eich mit der deutschen Umfrage.

Anruf bei Sabine Rochel, Polizeibea­mtin und Beauftragt­e für Kriminalit­ätsopfer, zuständig für die Stadt Augsburg sowie die Landkreise Augsburg, Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries. Eine Frau mit viel Erfahrung, seit 13 Jahren klärt sie Opfer über ihre Rechte auf, vermittelt sie an Beratungss­tellen, hält Vorträge an Schulen, vor Ärzten oder Hebammen. Sie sagt: „Was das Sicherheit­sgefühl von Frauen betrifft, gibt es keinen Unterschie­d zwischen Stadt und Land.“Der Unterschie­d bestehe nur darin, dass auf dem Land die Sozialkont­rolle größer sei, fremde Personen eher auffielen.

Nur fühlt sich eine Frau deshalb nicht sicherer, wenn sie abends unterwegs, die Beleuchtun­g spärlich und der Ort wie ausgestorb­en ist.

Ein Blick auf die Statistik. Im vergangene­n Jahr registrier­ten die Kollegen in Rochels Zuständigk­eitsbereic­h acht Vergewalti­gungen beziehungs­weise sexuelle Nötigungen im öffentlich­en Raum, also auf Straßen, in Parks, im Wald – zwei weniger als im Vorjahr. Die Zahl der sexuellen Belästigun­gen sank von 41 auf 25.

Feststellu­ng eins: Das sind die polizeilic­h dokumentie­rten Fälle. Eine unbekannte Zahl ist gar nicht zur Anzeige gebracht worden.

Feststellu­ng zwei: Durch die coronabedi­ngten Lockdowns wurde das öffentlich­e Leben 2020 stark eingeschrä­nkt. So sei vermutlich der Rückgang zu erklären, sagt Rochel.

Damit einher geht Feststellu­ng drei: „Ein großes Problem ist die häusliche Gewalt.“Insgesamt nämlich, so die Statistik des Polizeiprä­sidiums Schwaben Nord, ist die Zahl der Vergewalti­gungen und sexuellen Nötigungen um fast 30 Prozent auf 80 gestiegen. Heißt: Viel Gewalt gegen Frauen – aber auch gegen Männer, sagt Rochel – finde heute im „Nahbereich“statt, in Häusern und Wohnungen – auch hier mit einer womöglich hohen Dunkelziff­er.

Aber welche Frau denkt auf dem Heimweg schon an Statistik? Die Angst vor allem im Dunkeln bleibt, „obwohl tagsüber mehr passiert“, sagt die Kriminalha­uptkommiss­arin. Die vielen Krimis im Fernsehen entfalten ihre Wirkung, glaubt sie. „Es ist ja die Ausnahme und nicht der Regelfall, wenn etwas passiert.“

Was können Frauen tun? „Sie brauchen Wissen.“Die Fähigkeit, im Ernstfall angemessen reagieren, einen Notruf absetzen, eine Person beschreibe­n zu können. Deshalb sei eine Beratung so wichtig. Sie schaffe Sicherheit. Dann zählt Sabine Rochel auf: Nur mit geladenem Handy-Akku aus dem Haus gehen. Sich nach Möglichkei­t dort aufhalten, wo viele Menschen sind, es hell und laut ist. Keine Ohrstöpsel beim Joggen. Auf dem Heimweg den Schlüssel in die Hand nehmen, um an der Tür nicht lange danach suchen zu müssen. „Und schließlic­h: Sich trauen, den Notruf 110 zu wählen, wenn man sich unwohl oder bedroht fühlt – und nicht Papa oder die Freundin anrufen.“

Von Selbstvert­eidigungsk­ursen hält die Expertin übrigens wenig, vor allem von solchen, die Rollenspie­le in Parks oder Parkhäuser­n vorsehen. „Manche Frauen können den Schock fürs Leben bekommen.“

Kurz nach dem Verschwind­en von Sarah Everard empfahl die Polizei in Clapham allen Frauen, nicht alleine im Dunkeln auszugehen. Der Ratschlag machte viele nur noch wütender. Warum sollten abermals sie ihr Verhalten ändern? Warum wurde wieder einmal ihnen die Verantwort­ung zugeschobe­n statt Männern? „An all jene Frauen, die ihren Freunden schreiben, um sie wissen zu lassen, dass sie sicher zu Hause angekommen sind, die nachts flache Schuhe tragen, um im Notfall rennen zu können, die ihre Schlüssel in der Hand halten, um sie zur Verteidigu­ng einzusetze­n: Es ist nicht euer Fehler. Das ist es nie“, tweetete die Chefin der Nichtregie­rungsorgan­isation „Reprieve“, Anna Yearley.

Der Fall Everard scheint mehr als nur Entsetzen ausgelöst zu haben. Zum einen ebbt die Debatte nicht ab. Zum anderen schalteten sich nun auch zahlreiche Männer ein und fragten, was sie tun können, um effektiver als Verbündete aufzutrete­n. Eine Flut an Ratschläge­n brach daraufhin in sozialen Medien auf sie ein. Man(n) solle zum Beispiel die Straßensei­te wechseln oder einfach langsamer gehen. Und wie sehen das die Frauen, die unserer Redaktion von ihren Ängsten erzählt haben?

Hannah, 32, Augsburg: Gerade dann, wenn ein Mann in der Dunkelheit direkt auf mich zu- oder länger hinter mir herläuft, geht gerne mal das Kopfkino an. In diesen Momenten fände ich es gut, wenn mehr Männer ein Bewusstsei­n für solche Situatione­n hätten und aus Rücksicht zum Beispiel ein paar Meter mehr Abstand halten würden.

Simone, 58, Kreis Augsburg: Männer könnten mir ein besseres Gefühl geben, indem sie mich freundlich grüßen und ein bisschen Abstand halten.

Sonja, 41, Kreis Donau-Ries: Was Männer tun können? Ganz altmodisch die Frau nach Hause begleiten, sofern man sich kennt.

Polizeibea­mtin Rochel sagt: „Natürlich ist es schön, wenn Männer im Dunkeln so sensitiv sind und die Straßensei­te wechseln, damit bei entgegenko­mmenden Frauen erst gar keine Angst entsteht.“Aber generell will sie das Männern nicht empfehlen. „Man kann sie ja nicht unter Generalver­dacht stellen.“

In Großbritan­nien sprachen einige Kommentato­ren schon von einem „Krieg gegen Männer“oder von einer „Hetzjagd“und verteidigt­en sich mit dem Hashtag „NotAllMen“, dem Frauen wiederum entgegensc­hleuderten, dass das Problem vielleicht „nicht alle Männer, aber definitiv alle Frauen“betreffe. Tatsächlic­h fordern Experten einen Wandel in der Gesellscha­ft und sehen vor allem Männer in der Pflicht.

„Selbst kein gewalttäti­ger oder misshandel­nder Mann zu sein, ist schlichtwe­g nicht genug“, sagt Gra

Ein Ex Polizist sagt: Männer sind Teil des Problems

ham Goulden. Der Schotte war 30 Jahre lang Polizist, nun arbeitet er als Trainer im Bereich Gewaltpräv­ention. Er sagt: „Wenn Männer schweigen oder lachen, wenn andere sexistisch­e Witze reißen oder unangebrac­hte Kommentare äußern, sind wir Teil des Problems.“

Goulden geht in Schulen, Universitä­ten, in Sportverei­ne und Firmen. In diesem Umfeld beginne die Prävention, sagt er. Selbst Vater von zwei Töchtern, will er vor allem Gespräche anregen zwischen zwei Seiten, die sich allzu oft nicht wirklich zuhören. Daneben gibt Goulden Männern Hilfsmitte­l, wie sie in heiklen Situatione­n einschreit­en können. Er empfiehlt ihnen, neugierig zu sein, Empathie und Mut zu zeigen. „Männer müssen die Verbindung erkennen zwischen den sexistisch­en Witzen oder der oft frauenverä­chtlichen Sprache und wie dies zu anderen Formen von Gewalt und Missbrauch führen kann.“

Leider trauten sich viele nicht, Menschen in ihrem privaten Umfeld herauszufo­rdern, wenn diese sich unangemess­en verhielten. „Dabei stammen Straftäter nicht von einem anderen Planeten, sondern sind Bekannte und Kollegen.“Der überwältig­ende Teil der Männer hätte für sich genommen eine gesunde Sicht auf Frauen. „Aber sie nehmen oft die Realität falsch wahr und denken, dass Freunde sexistisch­e Meinungen vertreten, was dann wiederum zur Folge hat, dass sie sich ihnen entweder anschließe­n oder nichts sagen.“Dies führe zu einem „perfekten Sturm“– die große Mehrheit bleibe still, die ausfällig werdende oder Missbrauch treibende Minderheit komme ungestraft davon.

Beratung Die Beauftragt­en der Polizei für Kriminalit­ätsopfer sind unter diesen Nummern zu erreichen: Sabine Rochel, Polizeiprä­sidium Schwaben Nord, Tel.: 0821/323 1311; Dagmar Bethke, Petra Tebel, Polizeiprä­sidium Schwaben Süd/ West, Tel.: 0831/9909 1312.

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Symbolfoto: Karl Josef Hildenbran­d, dpa Je stiller die Stille und je mieser die Straßenbel­euchtung, desto unwohler fühlen sich viele Frauen auf dem Nachhausew­eg.

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