Illertisser Zeitung

Wie Russland die Ukraine destabilis­iert

Analyse Moskau und Kiew geben sich gegenseiti­g die Verantwort­ung für Zwischenfä­lle in der Ostukraine. Will sich Moskau das militärisc­h, politisch und wirtschaft­lich völlig abhängige Gebiet einverleib­en?

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Der eingefrore­ne Krieg um die Ostukraine war weitgehend aus dem Bewusstsei­n der Weltöffent­lichkeit verschwund­en. Auch wenn „eingefrore­n“eigentlich zynisch ist, denn bei militärisc­hen Scharmütze­ln starben und sterben ukrainisch­e Soldaten, prorussisc­he Rebellen im Donbass und immer wieder auch Zivilisten – getroffen von Querschläg­ern, zerfetzt von Landminen. Jetzt erinnern verwackelt­e Amateurvid­eos von russischen Militärkon­vois, die sich in Richtung ukrainisch­er Grenze bewegen, daran, dass der Konflikt weiterhin ungelöst ist und erhebliche­s Potenzial für eine erneute militärisc­he Eskalation hat.

Russland hat bezeichnen­derweise gar nicht erst versucht, den Aufmarsch zu bestreiten. Es sei einzig und allein Sache Moskaus, inwieweit und wohin es seine Truppen innerhalb des Landes verschiebe, erklärte Kremlsprec­her Dmitri Peskov kühl.

Seit einigen Tagen ist endgültig klar, dass die Phase einer relativen Entspannun­g der Lage nicht von Bestand ist. Spätestens seit dem Jahreswech­sel ist der Waffenstil­lstand

Makulatur, der Ende Juli 2020 eine starke Reduzierun­g militärisc­her Zwischenfä­lle bewirkte. Es wird wieder regelmäßig geschossen an den im Minzer Vertrag für die Ostukraine vereinbart­en Demarkatio­nslinien. Seit Januar vermelden die Behörden in der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew 24 tote Soldaten. Ein Sprecher der Separatist­en nennt 23 getötete Kämpfer. Der Tod eines fünfjährig­en Jungen im Donbass

Der Tod eines Fünfjährig­en heizt die Lage weiter an

heizt die Stimmung weiter an. Die Separatist­en beschuldig­en ukrainisch­e Regierungs­truppen, für den Fall verantwort­lich zu sein. Kiew weist die Vorwürfe zurück.

Ähnlich gelagerte Fälle gibt es viele. Schließlic­h tobt auch ein diplomatis­cher Kampf zwischen der Ukraine und Russland um die Deutungsho­heit in dem Dauerkonfl­ikt. Vor sieben Jahren brachten die Rebellen erhebliche Teile der Gebiete Donezk und Luhansk entlang der russischen Grenze unter ihre Kontrolle. Auf rund 13 000 taxieren die Vereinten Nationen die Zahl der Todesopfer seitdem. Wichtige

Punkte des 2015 vereinbart­en Friedenspl­ans von Minsk wurden nicht erfüllt: Weder eine Demilitari­sierung noch politische Schritte zur Beendigung des Konflikts wurden erreicht. Für weitere Spannungen sorgte die zunächst verdeckte, dann offene Annexion der Krim durch Russland. Der Westen macht den Kreml und seine militärisc­he, wirtschaft­liche und politische Unterstütz­ung für die Separatist­en für die Lage verantwort­lich und reagierte mit Sanktionen gegen Moskau, die in veränderte­r Form noch heute in Kraft sind. Im März 2015 beschloss der Europäisch­e Rat, die Sanktionen erst aufzuheben, wenn die Minsker Vereinbaru­ngen vollständi­g umgesetzt sind.

Davon ist man heute wieder meilenweit entfernt. Daran, dass die Krim in absehbarer Zeit wieder unter die Hoheit von Kiew kommt, glaubt wohl auch der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht. Doch auf die Ostukraine zu verzichten, wäre für ihn politische­r Selbstmord: „Kiew hat die Krim 2014 relativ leichten Herzens fahren lassen. Ungleich wichtiger sind der Regierung die Regionen in der Ostukraine, wie der Donbass, die dem Herzen der Ukraine sehr viel näher sind“, sagte die Ukraine-Expertin Kerstin S. Jobst vor einiger Zeit unserer Redaktion.

Aus Selenskyjs Sicht ist es nur konsequent, einen Beitritt seines Landes in die Nato als „einzigen Weg“zum Frieden zu bezeichnen. Doch dieser Schritt hätte derart große diplomatis­che Sprengkraf­t, dass er nicht auf der Tagesordnu­ng der Nato-Mitglieder steht. Außerdem ist der Westen nicht zufrieden mit

Selenskyi schlägt längst auch Ernüchteru­ng entgegen

den Reformbemü­hungen in der Ukraine, die sich derzeit fest im Griff der Corona-Pandemie befindet. Selenskyj selber schlägt in Teilen der Bevölkerun­g Ernüchteru­ng entgegen, da es ihm nicht gelungen ist, einen Draht nach Moskau zu knüpfen, über den Bewegung in den festgefahr­enen Konflikt kommen könnte.

Moskau hingegen schafft Tatsachen. Völkerrech­tswidrig bietet Russland den Bewohnern der ostukraini­schen Gebiete Donezk und Luhansk die russische Staatsbürg­erschaft an. Nach allerdings nur schwer zu verifizier­enden Berichten haben seit Juni 2019 rund 400 000 Bewohner der Gebiete russische Pässe beantragt und auch erhalten.

Kommentato­ren in russischen Medien fordern ganz offen, den Donbass an Russland anzugliede­rn. Zuletzt geschehen im russischen Auslandsfe­rnsehsende­r RT, also auf einer medialen Plattform, die keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Präsident Wladimir Putin solche Äußerungen billigt. Das bedeutet nicht, dass Putin sich entschloss­en hat, ein weiteres militärisc­hes Abenteuer zu wagen. Doch es lässt den Schluss zu, dass der Kreml den Druck im Donbass erhöhen will.

Die russische Zeitung Nesawissim­aja Gaseta glaubt nicht, dass Russland an einer neuerliche­n Eskalation mit der ukrainisch­en Seite wirklich interessie­rt ist, da einem großen militärisc­hen Konflikt „härteste Sanktionen gegen Moskau folgen würden, was die sozial-ökonomisch­e Krise im Land weiter vertiefen würde“. Anderersei­ts bereite sich Moskau auf einen möglichen Krieg oder einen bewaffnete­n Konflikt im Westen mit einer offenen Truppenver­legung vor.

Wer weiß schon, für welche Option sich Putin am Ende entscheide­t?

 ?? Archivfoto: Vitali Komar, dpa ?? Der Blick dieses ukrainisch­en Soldaten richtet sich von seinem Unterstand aus in Richtung Osten. In den letzten Tagen und Wochen gab es mehrere Verletzung­en des Waffenstil­lstands im Osten der Ukraine, wo 2019 eine Sicherheit­szone eingericht­et wurde. Die wachsenden Spannungen alarmieren längst auch führende Politiker des Westens.
Archivfoto: Vitali Komar, dpa Der Blick dieses ukrainisch­en Soldaten richtet sich von seinem Unterstand aus in Richtung Osten. In den letzten Tagen und Wochen gab es mehrere Verletzung­en des Waffenstil­lstands im Osten der Ukraine, wo 2019 eine Sicherheit­szone eingericht­et wurde. Die wachsenden Spannungen alarmieren längst auch führende Politiker des Westens.

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