Es brennt wieder in Nordirland
Hintergrund Seit Tagen werden in den Städten wieder Autos angezündet, fliegen Molotowcocktails auf Polizisten. Warum 23 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen die Angst vor einem Rückfall in schlimme Zeiten wächst
Zwei Sessel, zwei Männer – und erst mal kein Platz für die EU Kommissionspräsi dentin.
der EU-Spitze. Manfred Weber (CSU), Chef der christdemokratischen Fraktion im EU-Parlament, sagte, man habe von dem Besuch „eine Botschaft der Entschlossenheit und Geschlossenheit der europäischen Haltung gegenüber der Türkei“erwartet. Weber: „Leider ist daraus ein Symbol der Uneinigkeit geworden.“Mit anderen Worten: Warum in aller Welt hat Michel die Situation nicht dadurch entschärft, dass er sich neben von der Leyen stellte oder setzte oder einen dritten Sessel anforderte? „Beschämend“nennt es CDU-Abgeordneter Dennis Radtke gegenüber unserer Redaktion: „Statt zu strahlen wie ein Balljunge, der sich gerade das Trikot von Lionel Messi geschnappt hat, hätte er sich besser zu von der Leyen an den Katzentisch gesetzt, um zu demonstrieren: So geht man mit uns nicht um.“Österreichs Ex-Kanzler Christian Kern twitterte: „Von Erdogan darf man nichts anderes erwarten, aber dass sich der EU-Ratspräsident zu einer Witzfigur degradiert, ist bitter.“Michel hätte sich leicht aus der Notlage befreien können, schrieb die polnische Zeitung Dziennik: „Er tat es aber nicht – und wurde so zum Hauptschuldigen für die Sesselaffäre.“
Die Protokoll-Experten des Auswärtigen Diensts der EU waren mit Blick auf Corona-Beschränkungen an den Vorbereitungen nicht beteiligt, wohl aber die EU-Vertretung in Ankara. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu wies am Donnerstag alle „ungerechten Anschuldigungen“zurück: „Es wurde entsprechend den Anregungen der EUSeite so eine Sitzordnung aufgestellt. Punkt.“Die EU-Regierungschefs wollen beim Gipfel im Juni entscheiden, wie sie mit der Türkei weiter verfahren wollen. Der Auftakt ging jedenfalls völlig daneben.
Belfast „Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden“, steht als Mahnung in großen Lettern auf dem Tor. Es ist Teil der sogenannten „Friedensmauern“, die im nordirischen Belfast bis heute unter anderem die protestantischunionistische Shankill Road und die katholisch-republikanische Springfield Road trennen – und damit zwei Seiten, die sich seit Jahren um Versöhnung bemühen. Doch kurz nach Ostern standen an dieser Stelle Autos in Flammen und Rauchschwaden zogen in den Nachthimmel, nachdem hunderte junge Menschen auf beiden Seiten Molotowcocktails geworfen hatten.
Am Mittwoch attackierten am sechsten Abend in Folge vermummte Angreifer Polizisten mit Steinen, Flaschen und warfen Brandsätze in einen Doppeldeckerbus, der später komplett ausbrannte. Der Vorfall ereignete sich ebenfalls an einer Kreuzung zwischen einem loyalistisch-protestantischen und einem nationalistisch-katholischen Wohnviertel in Belfast. Ähnlich verstörende Angriffe gab es in Derry/Londonderry und anderen Orten der Provinz. Insgesamt wurden bereits 55 Polizeibeamte verletzt.
Es sind Szenen, die Entsetzen auslösten und an die blutige Vergangenheit erinnern, die doch überwunden geglaubt war. Was am
Die Regierung versucht die Gemüter zu beruhigen
Mittwochabend passiert sei, „ist von einem Ausmaß, das wir seit Jahren nicht erlebt haben“, sagte der Beamte Jonathan Roberts.
Umso mehr bemühten sich Regierungsvertreter, die Gemüter zu beruhigen. Zudem verurteilten sie die Krawalle scharf. „Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen“, erklärten Politiker beider konfessioneller Lager gestern in einem Statement nach einer Sondersitzung des Kabinetts. Die Provinz wird von einer Einheitsregierung der jeweils größten Parteien von protestantischunionistischer und katholisch-republikanischer Seite geführt. „Der Weg, Meinungsverschiedenheiten zu lösen, ist durch Dialog, nicht durch Gewalt oder Kriminalität“, schrieb Premierminister Boris Johnson auf Twitter. Die Gewalt müsse aufhören, sagte Nordirlands Regierungschefin Arlene Foster von der nordirischen Unionistenpartei DUP. Die Justizministerin der Regionalregierung, Naomi Long von der kleinen Alliance Party, warnte vor einer Eskalation der Gewalt, „bevor es Leben kosten wird“.
Es herrschen Anspannung und Nervosität, die Nordiren blicken voller Sorge auf die Gewalt. Auch wenn Religion laut Experten heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, ziehen sich die ehemaligen Konfliktlinien bis in die Gegenwart. Jahrzehntelang standen die protestantischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone Nordirland als Teil des Königreichs verteidigten, den katholisch-irischen Republikanern entgegen, die ein wiedervereinigtes Irland anstrebten. Den Sicherheitsbehörden zufolge stecken hinter den jüngsten Ausschreitungen teils militante protestantisch-loyalistische Gruppierungen, die auch im Drogenhandel tätig sind. Aber auch etliche Jugendliche hätten sich den Krawallen angeschlossen.
Anlass ist nach Angaben der Protestierenden die Entscheidung der
Auch Jugendliche beteiligen sich an den Krawallen
Staatsanwaltschaft, hochrangige Politiker der katholisch-republikanischen Partei Sinn Féin, dem ehemals verlängerten politischen Arm der Terrorgruppe IRA, nach der Teilnahme an der großen Beerdigung des Republikaners Bobby Storey nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen.
Hinzu kommen die wachsenden Probleme seit dem Brexit. Der Sonderstatus des Landesteils stößt in Teilen des protestantischen Lagers auf Widerstand. Die Situation ist kompliziert. Die Loyalisten in Nordirland befürchten, dass sich die
Foto: Liam Mcburney, dpa
Provinz aufgrund des im EU-Austrittsvertrag festgeschriebenen und äußerst kontroversen NordirlandProtokolls weiter von Großbritannien entfernt. Danach wurde de facto eine Grenze zwischen Großbritannien und Nordirland errichtet, inklusive erforderlicher Warenkontrollen. So wollten Brüssel und London verhindern, dass es eine feste Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gibt, was das Karfreitagsabkommen verletzt hätte. Es ebnete 1998 den Weg zu einem offiziellen Frieden in Nordirland. Am 10. April unterzeichneten Vertreter der britischen und irischen Regierungen sowie der nordirischen Parteien nach jahrelangen Verhandlungen den historischen Friedensvertrag, der neben einer Polizeireform, einer Entwaffnung aller paramilitärischen Organisationen, der Amnestie für politische Gefangene auch ein Ende der Direktherrschaft aus London vorgab.
Fast auf den Tag genau 23 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden sind nicht verheilt, wie die letzten Tage gezeigt haben.