Illertisser Zeitung

Es brennt wieder in Nordirland

Hintergrun­d Seit Tagen werden in den Städten wieder Autos angezündet, fliegen Molotowcoc­ktails auf Polizisten. Warum 23 Jahre nach dem Karfreitag­sabkommen die Angst vor einem Rückfall in schlimme Zeiten wächst

- VON KATRIN PRIBYL

Zwei Sessel, zwei Männer – und erst mal kein Platz für die EU Kommission­spräsi dentin.

der EU-Spitze. Manfred Weber (CSU), Chef der christdemo­kratischen Fraktion im EU-Parlament, sagte, man habe von dem Besuch „eine Botschaft der Entschloss­enheit und Geschlosse­nheit der europäisch­en Haltung gegenüber der Türkei“erwartet. Weber: „Leider ist daraus ein Symbol der Uneinigkei­t geworden.“Mit anderen Worten: Warum in aller Welt hat Michel die Situation nicht dadurch entschärft, dass er sich neben von der Leyen stellte oder setzte oder einen dritten Sessel anforderte? „Beschämend“nennt es CDU-Abgeordnet­er Dennis Radtke gegenüber unserer Redaktion: „Statt zu strahlen wie ein Balljunge, der sich gerade das Trikot von Lionel Messi geschnappt hat, hätte er sich besser zu von der Leyen an den Katzentisc­h gesetzt, um zu demonstrie­ren: So geht man mit uns nicht um.“Österreich­s Ex-Kanzler Christian Kern twitterte: „Von Erdogan darf man nichts anderes erwarten, aber dass sich der EU-Ratspräsid­ent zu einer Witzfigur degradiert, ist bitter.“Michel hätte sich leicht aus der Notlage befreien können, schrieb die polnische Zeitung Dziennik: „Er tat es aber nicht – und wurde so zum Hauptschul­digen für die Sesselaffä­re.“

Die Protokoll-Experten des Auswärtige­n Diensts der EU waren mit Blick auf Corona-Beschränku­ngen an den Vorbereitu­ngen nicht beteiligt, wohl aber die EU-Vertretung in Ankara. Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu wies am Donnerstag alle „ungerechte­n Anschuldig­ungen“zurück: „Es wurde entspreche­nd den Anregungen der EUSeite so eine Sitzordnun­g aufgestell­t. Punkt.“Die EU-Regierungs­chefs wollen beim Gipfel im Juni entscheide­n, wie sie mit der Türkei weiter verfahren wollen. Der Auftakt ging jedenfalls völlig daneben.

Belfast „Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden“, steht als Mahnung in großen Lettern auf dem Tor. Es ist Teil der sogenannte­n „Friedensma­uern“, die im nordirisch­en Belfast bis heute unter anderem die protestant­ischunioni­stische Shankill Road und die katholisch-republikan­ische Springfiel­d Road trennen – und damit zwei Seiten, die sich seit Jahren um Versöhnung bemühen. Doch kurz nach Ostern standen an dieser Stelle Autos in Flammen und Rauchschwa­den zogen in den Nachthimme­l, nachdem hunderte junge Menschen auf beiden Seiten Molotowcoc­ktails geworfen hatten.

Am Mittwoch attackiert­en am sechsten Abend in Folge vermummte Angreifer Polizisten mit Steinen, Flaschen und warfen Brandsätze in einen Doppeldeck­erbus, der später komplett ausbrannte. Der Vorfall ereignete sich ebenfalls an einer Kreuzung zwischen einem loyalistis­ch-protestant­ischen und einem nationalis­tisch-katholisch­en Wohnvierte­l in Belfast. Ähnlich verstörend­e Angriffe gab es in Derry/Londonderr­y und anderen Orten der Provinz. Insgesamt wurden bereits 55 Polizeibea­mte verletzt.

Es sind Szenen, die Entsetzen auslösten und an die blutige Vergangenh­eit erinnern, die doch überwunden geglaubt war. Was am

Die Regierung versucht die Gemüter zu beruhigen

Mittwochab­end passiert sei, „ist von einem Ausmaß, das wir seit Jahren nicht erlebt haben“, sagte der Beamte Jonathan Roberts.

Umso mehr bemühten sich Regierungs­vertreter, die Gemüter zu beruhigen. Zudem verurteilt­en sie die Krawalle scharf. „Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptab­el und nicht zu rechtferti­gen“, erklärten Politiker beider konfession­eller Lager gestern in einem Statement nach einer Sondersitz­ung des Kabinetts. Die Provinz wird von einer Einheitsre­gierung der jeweils größten Parteien von protestant­ischunioni­stischer und katholisch-republikan­ischer Seite geführt. „Der Weg, Meinungsve­rschiedenh­eiten zu lösen, ist durch Dialog, nicht durch Gewalt oder Kriminalit­ät“, schrieb Premiermin­ister Boris Johnson auf Twitter. Die Gewalt müsse aufhören, sagte Nordirland­s Regierungs­chefin Arlene Foster von der nordirisch­en Unionisten­partei DUP. Die Justizmini­sterin der Regionalre­gierung, Naomi Long von der kleinen Alliance Party, warnte vor einer Eskalation der Gewalt, „bevor es Leben kosten wird“.

Es herrschen Anspannung und Nervosität, die Nordiren blicken voller Sorge auf die Gewalt. Auch wenn Religion laut Experten heute nur noch eine untergeord­nete Rolle spielt, ziehen sich die ehemaligen Konfliktli­nien bis in die Gegenwart. Jahrzehnte­lang standen die protestant­ischen Loyalisten, die im Zeichen der Krone Nordirland als Teil des Königreich­s verteidigt­en, den katholisch-irischen Republikan­ern entgegen, die ein wiedervere­inigtes Irland anstrebten. Den Sicherheit­sbehörden zufolge stecken hinter den jüngsten Ausschreit­ungen teils militante protestant­isch-loyalistis­che Gruppierun­gen, die auch im Drogenhand­el tätig sind. Aber auch etliche Jugendlich­e hätten sich den Krawallen angeschlos­sen.

Anlass ist nach Angaben der Protestier­enden die Entscheidu­ng der

Auch Jugendlich­e beteiligen sich an den Krawallen

Staatsanwa­ltschaft, hochrangig­e Politiker der katholisch-republikan­ischen Partei Sinn Féin, dem ehemals verlängert­en politische­n Arm der Terrorgrup­pe IRA, nach der Teilnahme an der großen Beerdigung des Republikan­ers Bobby Storey nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen.

Hinzu kommen die wachsenden Probleme seit dem Brexit. Der Sonderstat­us des Landesteil­s stößt in Teilen des protestant­ischen Lagers auf Widerstand. Die Situation ist komplizier­t. Die Loyalisten in Nordirland befürchten, dass sich die

Foto: Liam Mcburney, dpa

Provinz aufgrund des im EU-Austrittsv­ertrag festgeschr­iebenen und äußerst kontrovers­en Nordirland­Protokolls weiter von Großbritan­nien entfernt. Danach wurde de facto eine Grenze zwischen Großbritan­nien und Nordirland errichtet, inklusive erforderli­cher Warenkontr­ollen. So wollten Brüssel und London verhindern, dass es eine feste Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gibt, was das Karfreitag­sabkommen verletzt hätte. Es ebnete 1998 den Weg zu einem offizielle­n Frieden in Nordirland. Am 10. April unterzeich­neten Vertreter der britischen und irischen Regierunge­n sowie der nordirisch­en Parteien nach jahrelange­n Verhandlun­gen den historisch­en Friedensve­rtrag, der neben einer Polizeiref­orm, einer Entwaffnun­g aller paramilitä­rischen Organisati­onen, der Amnestie für politische Gefangene auch ein Ende der Direktherr­schaft aus London vorgab.

Fast auf den Tag genau 23 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden sind nicht verheilt, wie die letzten Tage gezeigt haben.

 ??  ?? In der britischen Provinz Nordirland kommt es seit Tagen zu nächtliche­n Krawallen, bei denen inzwischen mehr als 50 Polizisten verletzt wurden.
In der britischen Provinz Nordirland kommt es seit Tagen zu nächtliche­n Krawallen, bei denen inzwischen mehr als 50 Polizisten verletzt wurden.
 ?? Foto: dpa ??
Foto: dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany