Erinnerungen an eine Kindheit im Vöhlinschloss
Geschichte Ellen Wildermuth ist die Tochter der früheren Hausmeisterfamilie Mayer, die einst im Illertisser Vöhlinschloss gewohnt hat. Von echten und falschen Schlossgeistern kann sie einiges erzählen. Und noch viel mehr
FREITAG, 9. APRIL 2021
Illertissen/Kettershausen Jedes Mal, wenn Ellen Wildermuth am Vöhlinschloss vorbei nach Illertissen hinein fährt, holen sie wieder die Erinnerungen ein. Dankbar sagt sie: „Ich weiß, es war ein Privileg, direkt im Schloss aufzuwachsen.“Die 41-Jährige ist eine der beiden Töchter der Hausmeisterfamilie Franziska und Alexander Mayer, die einst im Küchentrakt auf der Westseite zwischen Hinterem Schloss und Kapelle wohnte.
Mayer war in Zeiten des Amtsgerichts auch zuständiger Wachmann und hat im Laufe seines Berufslebens alle Winkel des Schlosses kennengelernt. Seit dem Tod der Mayers kann Wildermuth, die mit ihrem Mann in Kettershausen lebt, ihre „Heimat“, das Vöhlinschloss, nur noch von außen betrachten. In denkwürdigen gereimten Zeilen hatte sie sich von ihrer alten Heimat verabschiedet und das Gedicht – für alle lesbar – an ihrem einstigen Hauseingang angebracht.
Darin beschreibt sie ihr Zuhause als ein Paradies, weil sich so viel erkunden ließ: „Mit Kinderaugen so viel mehr seh‘n,/Drachen, Ritter, Hexen, Feen!/ Kobolde, Gespenster, Geister/erschreckten uns mal mild mal dreister!“Unverkennbar hat Ellen Wildermuth die poetische Ader ihres Vaters – Mitglied bei der Schwabengilde – geerbt, die sie auch als Regisseurin bei der Theatergruppe Schmiere in Babenhausen auslebt. Als direkte Nachfahrin der Illertisser Seilartisten Stey/Mayer – ihr Großvater Rudolf Mayer ging in jungen Jahren mit seinen Brüdern noch auf Tournee – liegt der Hang zur Kunst in ihren Genen. Der Großvater war später unter die Schausteller gegangen und Sohn Alexander Mayer samt Familie halfen das eine oder andere Mal aus.
Wildermuth: „Ich erinnere mich noch gut an die Weihnachtsmärkte.“Dass sie beim Auflösen der Wohnung nach dem Tod der Mutter ihre Empfindungen in einem Gedicht niederlegte, sei aus dem Bedürfnis entstanden, ihrer Seele Luft zu machen. „Das war nicht einfach so eine Wohnungsauflösung“, sagt sie und berichtet, wie ihre Schwester und sie vergangenen Sommer in den leeren Zimmern verweilten, in Erinnerungen schwelgend, bis die Außenbeleuchtung ausging. Es war ein Samstag und sie nahmen von allem Abschied, was ihnen so viel bedeutete: „Von einer wunderschönen Kindheit, dem Wohnen in altehrwürdigen Mauern und nochmals von unseren Eltern, die bald nachei
Ellen Wildermuth lebt heute mit ihrer Familie in Kettershausen.
nander gestorben waren.“Als ausgewiesene Poetin sieht sie sich nicht, doch sie habe nachgedacht, inwiefern Eigenschaften vom Vater an sie übergegangen sind. Die Liebe zum Vöhlinschloss allemal.
Es begann 1987, als die Familie ins Illertisser Schloss einzog und Alexander Mayer damit seinen Traumberuf antrat. Ellen Wildermuth war acht Jahre alt und ihre Schwester Carolin fünf. Nicht lange, und sie wurden mit den Geheimnissen ihres neuen Wohnsitzes ver
Kindheit auf dem Vöhlinschloss: Ellen Wildermuth als Dreijährige.
traut, das sich für die Kinder als unermessliches Spielfeld erwies. Das ging los bei der Wendeltreppe zum Barocksaal, die manch Erwachsenem nicht geheuer war. Im Erdgeschoss ihres Traktes befand sich die Werkstatt, darüber der Wohnbereich. Die Kinderzimmer lagen im zweiten Stock und wurden für die neu eingezogenen Mayers eigens ausgebaut. Im Treppenhaus führte eine Tür in ein kleines dunkles Kämmerlein, das sich nur gebückt betreten ließ und mysteriöse skelet
Alexander Mayer war in Illertissen auch bekannt als der „heimliche Schlossherr“.
tierte Relikte barg. Die Turmfalken hatten es für sich als ideale Brutstätte entdeckt. Wildermuth: „Damit wir uns nicht fürchten, erklärte mein Vater, dass ungewöhnliche Orte in einem alten Haus normal seien und auch so bleiben sollten.“
Dabei musste Alexander Mayer die Kinder, insbesondere wenn der Cousin zu Besuch kam, in ihrer Abenteuerlust eher bremsen. Die heimliche Erkundung einer vermeintlichen Gruft unter der Kapelle wird sie nicht vergessen: „Wir hatten fest mit einem Schatz gerechnet, schlichen uns über verborgene Wege hinunter und gruben vergeblich in der Erde.“Oder nächtliche Begegnungen: Längere Zeit hörte sie im Bett Geräusche, als ob jemand am Zimmer vorbeischleichen würde. Aufschluss gab es erst, als Mayer etwas Buschiges vorbeihuschen sah und hinter Hohlwänden auf Siebenschläfer stieß. Wiederum erklärte er: „In einem so großen Haus finden auch Tiere ihren Platz.“Sobald sich unheimliche Dinge aufklären ließen, in ihrer Wohnung ohne einen rechten Winkel oder gerade Fußböden, war für die Kinder alles in Ordnung. „Nicht auf einer Fläche hätten wir Murmeln spielen können“, so Wildermuth.
Ihr Leben Seite an Seite mit tierischen Mitbewohnern bereicherte Kater Luzifer, der ihnen mit Vorliebe tote Mäuse vor die Füße legte. Seine Nachfolger waren zwei Katzen und Kater Vöhlin, aber auch die Dogge Hassan, weswegen Mayer Mitglied im Doggenclub Augsburg wurde. Dort erinnert inzwischen ein „Alexander-Mayer-Platz“an ihren Vater. Ebenfalls Hausmeister waren die Griebs. Beim Besuch ihrer Hühner im Burggraben stießen die Kinder auf einen in den Keller führenden Eingang im Gemäuer, der aber im Zuge von Renovierungen verschlossen wurde. Als sie dies bedauerten, habe ihr Vater die Notwendigkeit von Instandhaltungsmaßnahmen erklärt. „Zuviel darf aber nicht verändert werden, sonst verliert es seinen Charme!“, habe er hinzugefügt.
Eine ganz besondere Erfahrung war es für die Kinder, ihren Vater als Schlossführer zu erleben: Als er, vorbei an einstigen Gefängniszellen, die Verwandtschaft aus Amerika bis unter die Turmhaube führte, wo sich auch schon mal ein Wasserreservoir befand.
Ihre Mutter hatte sich die andere Rolle im Leben auf dem Schloss herausgesucht: Als Herrin und Hüterin des Hauses habe sie die Gastfreundschaft hoch gehalten. „Jeder war willkommen und bei unserer großen Verwandtschaft führte das immer zu wunderschönen Feiern“, so Wildermuth.
Beim Ausräumen der Wohnung hat sie überall Gedichte ihres Vaters und Skizzen zu Gestaltungsideen im Schloss gefunden. Und wenn bei ihr daheim in Kettershausen die alte Uhr der Eltern wie von Geisterhand plötzlich anklingt, kann das Ellen Wildermuth keineswegs erschüttern. „Da ist Papa mal wieder am Werk“, sagt sie und schmunzelt vielsagend.