Illertisser Zeitung

„Diese Entwicklun­g ist besorgnise­rregend“

Protest Die „Aktion Kinderschu­he“stammt laut Rechtsextr­emismus-Experte Sebastian Lipp aus der Szene der Querdenker. Dass einigen Eltern dieser Umstand und die Symbolik nicht bewusst sei, hält er für sehr bedenklich

- VON CHRISTOPH LOTTER

Region Selbst gebastelte Plakate zwischen sorgsam aufgereiht­en Kinderschu­hen: Protestakt­ionen dieser Art gab es in den vergangene­n Wochen immer wieder, unter anderem vor dem Rathaus in Vöhringen sowie auf der Treppe vor dem Schulamt in Krumbach. Jedes dieser Paar Schuhe solle für ein Kind stehen, das unter der Corona-Politik leide, war dort von Eltern zu erfahren, die sich nach eigenen Angaben spontan zu diesem Protest versammelt und die Schuhe auf der Treppe platziert hatten. Die Bilder der aufgereiht­en Kinderschu­he assoziiere­n einige allerdings mit dem Holocaust im Dritten Reich.

Teilnehmer der Aktion in Krumbach distanzier­en sich von den Vorwürfen, oder gaben an, nichts von einer solchen Symbolik zu wissen. Diesen Umstand nennt Rechtsextr­emismus-Experte Sebastian Lipp sehr bedenklich. Der Journalist beschäftig­t sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradi­kalen Szene in unserer Region. „Diese Entwicklun­g ist besorgnise­rregend“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die „Aktion Kinderschu­he“stamme ursprüngli­ch ganz eindeutig aus der Querdenker­szene, sagt Lipp. Die ersten Aufrufe, berichtet er, seien durch die Querdenker­gruppen in diversen Kanälen gelaufen. Von dort hätte die Aktion auch außerhalb der Szene ihre Kreise gezogen. So habe die Querdenker­szene weit in bürgerlich­e Kreise vordringen können. „Das ist Kalkül. Mit dem langfristi­gen Ziel, sich in der Außenwirku­ng und der Öffentlich­keit eine moderate Position zu schaffen“, sagt der Rechtsextr­emismus-Experte. „Und das ist ganz offensicht­lich auch aufgegange­n.“

Bundesweit hatten sich im April Menschen zu Protestakt­ionen getroffen, um sich für die Rechte ihrer Kinder stark zu machen. Angemeldet waren die Aktionen nicht, ein Organisato­r ist bis heute nicht bekannt. Für die Polizei ist die Aktion eine spontane Versammlun­g. So ähnlich war es auch bei weiteren Protesten unter dem Titel „Aktion Kinderschu­he“andernorts in Deutschlan­d der Fall. Diese vermeintli­ch spontanen Versammlun­gen, berichtet der Experte, weisen indes – neben der Symbolik – jedoch einige Parallelen auf, die nicht von der Hand zu weisen seien.

Etwa seien die Plakate teils in Wortlaut und Aufmachung identisch. Bezug zur Querdenker­szene, dem Ursprung der „Aktion Kinderschu­he“, habe nach Angaben der Teilnehmer nirgends bestanden. Die Aussagen einiger, nichts von der Symbolik zu wissen, seien in dieser Häufung indes zudem recht auffällig, sagt Lipp: „Das mag vereinzelt

Sebastian Lipp stimmen, aber in dieser Masse ist es nur wenig glaubhaft. Dieses Muster ist zudem bekannt, diese Reaktionen überrasche­n mich deshalb nicht.“Schon ein einfaches Googeln nach dem Titel der Aktion wäre ausreichen­d gewesen, sagt er, um sich der Problemati­k der Symbolik bewusst zu sein. Zudem sei es mittlerwei­le gemeinhin bekannt, dass das Thema Corona sehr stark benutzt wird – eben auch von Rechten. Lipp empfiehlt: „Da sollte man auf jeden Fall hellhörig werden und sich informiere­n, bevor man auf eine solche Protestakt­ion geht.“

Denn die Symbolik der „Aktion Kinderschu­he“sei allemal hochproble­matisch, betont der Rechtsextr­emismus-Experte. Die aufgereiht­en Kinderschu­he wirken zunächst tatsächlic­h wie ein harmloser Protest. Doch die Erinnerung­en, die diese Bilder bei manchen wecken, sind grausam. Der Autor Johannes R. Becher (1891 bis 1958) schreibt etwa in einem Gedicht über die furchtbare­n Morde an Millionen Kindern im Nationalso­zialismus.

Der Kindermord sei klar erwiesen, dichtet er, „und nie vergess ich unter diesen, die Kinderschu­he aus Lublin.“

Diese Schilderun­g beruht auf dem Bild von Bergen an Kinderschu­hen, die bei der Befreiung in den KZ-Lagern gefunden wurden und die Dimension der Morde vermitteln. „Es ist erstaunlic­h, dass das in Deutschlan­d offenbar kaum jemandem auffällt. Dabei werden bei diesen Protesten ganz offensicht­lich NS-Verbrechen relativier­t und das Gedenken daran entwertet“, sagt Lipp. Im Fall der „Aktion Kinderschu­he“werde der Einsatz für die Rechte der Kinder vorgeschob­en.

„Sind die Menschen von außerhalb der Szene erst einmal vor Ort, werden ihnen die einschlägi­gen Botschafte­n sozusagen eingeimpft und sie werden langsam radikalisi­ert“, warnt der Experte. „Diese Leute werden bezüglich der Querdenker­szene nicht verdächtig­t, aber sie tragen den Diskurs weiter in die Gesellscha­ft.“Auch wenn es quantitati­v seit Weihnachte­n bei den Querdenker­n einen kleinen Einbruch gegeben habe, berichtet Lipp, sei das Phänomen nun wieder stärker präsent.

Und qualitativ sei doch ein starker ideologisi­erter Teil übrig geblieben, der sehr viel weiter radikalisi­ert sei, als es noch vor wenigen Wochen der Fall war. „Hier vermischen sich teilweise Verschwöru­ngstheorie­n und antisemiti­sches Gedankengu­t“, meint der Experte. Die Argumentat­ion der Szene sei dabei auf den ersten Blick oft schlüssig, sagt Lipp: „Das kann gefährlich sein.“Deshalb sollte man die Aussagen immer hinterfrag­en und im Gesamtkont­ext betrachten.

Eltern, die mit der Situation unzufriede­n sind, und deshalb auf die Straße gehen wollen, müssen aufgrund solch besorgnise­rregender Entwicklun­gen freilich nicht darauf verzichten, betont der Experte: „Aber man sollte sich im Vorfeld schon genau ansehen, wofür man da auf die Straße geht und mit wem man sich gemeinmach­t.“Die Querdenker-Bewegung zeichne sich etwa durch ein sehr egoistisch­es Forderungs­profil aus. „In erster Linie geht es darum, die Freiheit des Einzelnen nicht einzuschrä­nken.“Der Experte empfiehlt daher, den eigenen Protesten einen solidarisc­hen Ansatz zu geben. Lipp: „Das schreckt die Querdenker in aller Regel ab.“

Zur Person

Sebastian Lipp ist Journalist und be schäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradi­kalen Szene in Süd schwaben. In dem Blog „Allgäu rechtsauße­n“dokumentie­rt der Kemptener die Aktivitäte­n der Rechten in der Region. Außerdem ar beitet er als freier Journalist für überregion­ale Medien. Im Mai 2019 zeichnete ihn der Bayerische Jour nalistenve­rband für die von ihm he rausgegebe­ne umfangreic­he Re cherche zum rechten Untergrund im Allgäu mit einem Preis zum Tag der Pressefrei­heit aus. (loto)

 ?? Archivfoto: Ursula Balken ?? Gebastelte Plakate und Kinderschu­he hatten Unbekannte unter anderem in Vöhringen vor dem Rathaus abgestellt – dort ist auch dieses Foto entstanden. Die „Aktion Kinder   schuhe“, die wegen ihrer problemati­schen Symbolik bundesweit für Diskussion­en sorgt, wurde auch von der Querdenker  Szene beworben. Dass dies von vielen Eltern nicht wahrgenomm­en wird, hält Rechtsextr­emismus  Experte Sebastian Lipp für sehr bedenklich.
Archivfoto: Ursula Balken Gebastelte Plakate und Kinderschu­he hatten Unbekannte unter anderem in Vöhringen vor dem Rathaus abgestellt – dort ist auch dieses Foto entstanden. Die „Aktion Kinder schuhe“, die wegen ihrer problemati­schen Symbolik bundesweit für Diskussion­en sorgt, wurde auch von der Querdenker Szene beworben. Dass dies von vielen Eltern nicht wahrgenomm­en wird, hält Rechtsextr­emismus Experte Sebastian Lipp für sehr bedenklich.
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