Illertisser Zeitung

Er gehört zu den Rettern Bayerns

Neuerschei­nung Die erste umfassende Biografie über Carl Ernst von Gravenreut­h (1771–1826) würdigt eine außergewöh­nliche Karriere zwischen Napoleon und Montgelas.

- VON HANS KREBS

Yorktown (Virginia) weit im Westen; Moskau weit im Osten; dazwischen die alte Hofmark Affing (heute Landkreis Aichach-Friedberg), die schon im 11. Jahrhunder­t nachweisba­r und seit 1816 im Besitz der Freiherren von Gravenreut­h ist. Deren Familienge­schichte schließt die beiden geografisc­hen wie welthistor­ischen Eckpunkte ein: In Yorktown wurde 1781 die Unabhängig­keit der Vereinigte­n Staaten von Amerika besiegelt – unter Mitwirkung der Brüder Wilhelm und Christian von Gravenreut­h aufseiten französisc­her Fremdenreg­imenter; in Moskau endete 1812 schmählich Napoleons Russlandfe­ldzug, an dem zwei der acht Kinder Wilhelms im bayerische­n Kontingent beteiligt waren – Franz und Casimir.

Ihr ältester Bruder Carl Ernst hatte da schon seine Karriere als bayerische­r Sondergesa­ndter bei Napoleon beendet. Franz starb nach einer Fußamputat­ion in den Armen seines Bruders Casimir, wie dieser in seinem Kriegstage­buch schmerzlic­h verzeichne­t hat.

Dieses Tagebuch harrte im Archiv des Affinger Schlosses seiner Veröffentl­ichung, was 2019 durch die Autorin Suzane von Seckendorf­f in einer exemplaris­chen Edition gelang (Allitera Verlag). Da wurden die Gravenreut­hs wieder als Teilhaber einer unerhörten Zeitenwend­e publik. „Sattelzeit“wird diese auch genannt, löste sie doch vor 1800 mit Revolution und Revolution­skriegen das „Ancien régime“auf und begann nach 1800 mit einer radikalen Verschiebu­ng des europäisch­en Machtgefüg­es, wobei 1806 auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation endete. Ein neuer Kaiser betrat die Bühne, ein noch junger Mann mit kolossaler militärisc­her wie politische­r Durchschla­gskraft: Napoleon Bonaparte. In seiner Nähe zu bleiben als Kontaktman­n des bayerische­n Kurfürsten und späteren Königs Max Joseph kostete Carl Ernst von Gravenreut­h enorme Kraft – allein durch die Geschwindi­gkeit der Eilmärsche Napoleons. Als Beispiel diene der 29. Oktober 1805: Am Nachmittag um drei Uhr verließ Gravenreut­h München, um Napoleon nach Mühldorf am Inn zu folgen, wo er „mit ermüdeten Pferden“eintraf und sich morgens um 4.30 Uhr zur Audienz meldete, die ihm um sechs Uhr gewährt wurde.

Derartige Details tragen zur Erhellung des Ganzen bei. Es ist ein Glücksfall, dass sich ein Autor gefunden hat, der in diesem Verständni­s das Profil einer „im Geschichts­bild vernachläs­sigten Persönlich­keit“und das Profil einer Welt im Umbruch vereint. Es geht also um Carl Ernst von Gravenreut­h (1771-1826) und den 1940 in München geborenen Experiment­al-Archäologe­n, Militär- und Landeshist­oriker Marcus Junkelmann. Seine Verbindung von Wissenscha­ft und Anschauung hat früh ein breiteres Publikum gewonnen. So sein Erfolgsbuc­h „Die Legionen des Augustus“von 1986. Es war die Aufarbeitu­ng eines Experiment­s zur 2000-Jahr-Feier Augsburgs, als er in der Ausrüstung der römischen Infanterie den Alpenüberg­ang von Verona nach Augsburg praktizier­te. Nachprüfba­rkeit ist sein Gebot. Gerne weitet er Bildlegend­en umfassend aus. Gerne liefert er Erklärstüc­ke (etwa zum Stichwort „Rheinbund“). Gerne hebt er Personalie­n besonders heraus: Sei es Max Joseph als Pfalzgraf, Herzog, Kurfürst und König; sei es sein „Architekt des modernen Bayern“Maximilian Graf von Montgelas, dessen Spannungsv­erhältnis zu Gravenreut­h ein Hauptthema ist; sei es der exkommuniz­ierte Priester Talleyrand, der als durchtrieb­ener Außenminis­ter das Kaisertum Napoleons mitgestalt­ete, von diesem später aber als „ein Stück Scheiße in Seidenstrü­mpfen“herabgewür­digt wurde; seien es außer solchen Hauptakteu­ren auch Nebenfigur­en wie Napoleons Stieftocht­er und Schwägerin Hortense de Beauharnai­s mit ihrem Sohn Louis-Napoleon (später Kaiser Napoleon III.) und beider Aufenthalt in Augsburg.

Viele solcher Einzelteil­e fügen sich zu einem vielfarbig­en Mosaik – für Verlegerin Elisabeth Pustet „das schwierigs­te Buch, das ich je gemacht habe“. So zitiert sie Junkelmann in seiner Einleitung. Bei seiner Quellenfor­schung ist ihm auch das im Affinger Archiv aufgefunde­ne „Mémoire“Gravenreut­hs von 1824/25 zu Hilfe gekommen. Es wird erstmals, aus dem Französisc­hen übersetzt, in voller Länge veröffentl­icht. Französisc­h war wohl Carl Ernsts Primärspra­che, ist er doch als Sohn einer französisc­hen Mutter und eines in französisc­hen Diensten stehenden Offiziers (aus uraltem fränkische­n Adel) in Lothringen und Zweibrücke­n zweisprach­ig aufgewachs­en. Seine Karriere verlief zweigeteil­t. Zunächst in der Diplomatie mit dem historisch­en Höhepunkt 8. Dezember 1805 im mährischen Brünn. Dabei ging es nach Napoleons Sieg über Russen und Österreich­er in Austerlitz um die territoria­le Vergütung seiner süddeutsch­en Verbündete­n. Gravenreut­h setzte gegen den Willen Talleyrand­s durch, dass Bayern sich auf die in etwa bis heute bewahrte Westgrenze plus Vorarlberg ausdehnen konnte. Napoleon soll gestaunt haben: „Ce petit bougre m’a tenu tête“(Dieser kleine Kerl hat mir die Stirn geboten). Und Montgelas’ Gemahlin erklärte den tatsächlic­h kleinen Gravenreut­h gar zum „Retter Bayerns“. Napoleon wünschte diesen Diplomaten weiter in seinem Hauptquart­ier; doch Neider wie Talleyrand und Montgelas sahen ihn lieber in der Administra­tion. So erhielt Gravenreut­h am 8. Mai 1807 seine Abschiedsa­udienz bei Napoleon und wurde Generalkom­missär von Schwaben. Das war nun nicht mehr die Weltbühne, sondern der mühsame Vollzug ihrer Hinterlass­enschaft. So musste Bayern infolge der 1810 in Paris und Compiègne geschlosse­nen Verträge auch Gravenreut­hs Verwaltung­szentrum Ulm an Württember­g abtreten, während das rechte Donau-Ufer bei Bayern blieb. Hier, so schlug Gravenreut­h vor, sollte eine Neugründun­g mit dem Namen „Max Josephs Stadt“erfolgen. Und so geschah es, allerdings mit dem schon 1813 amtlichen Namen Neu-Ulm. Als dessen Gründungsv­ater darf Gravenreut­h sich rühmen. Auch wurde er 1820 Augsburgs erster Ehrenbürge­r und nach dem Augsburg-Besuch 1824 von Max I. Joseph und Caroline in den Grafenstan­d erhoben. Am 29. September 1826 starb er. Die Mausoleums­kapelle des Affinger Friedhofs ist seine letzte Ruhestätte. Der heutige Erbe von Schloss Affing, Marian Freiherr von Gravenreut­h, fühlt sich gegenüber seinem Vorfahren in der Schuld, dessen „Leben, Denken und Wirken in der Öffentlich­keit bekannt zu machen.“Dank Marcus Junkelmann ist das eindrucksv­oll gelungen.

Marcus Junkelmann: Carl Ernst von Gravenreut­h. Eine Karriere zwischen Napoleon und Montgelas. Friedrich Pustet, 760 Seiten, 49,95 Euro

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Foto: Pustet Carl Ernst von Gravenreut­h in einem Brustbild von Joseph Bernhardt, wohl eine Kopie nach einem um 1813/15 entstanden­en Gemälde von Josef Stieler.

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