Illertisser Zeitung

Auch der Karneval lernt aus der Geschichte.

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Der Kölner Stadtanzei­ger will auch noch Themen der Saison gesichtet haben: „Bunter Glitzer-Glitzer. Die Goldenen Zwanziger. Royale Paare. Puschelkos­tüm. Schwarz-Weiß-Fantasie.“Wer kann sich darauf einen Reim machen?

Für die Maskerade gibt es eben mehr als eine Erklärung, mehr als nur eine Spielart. Fragt man Gudrun König, woher die Lust kommt, sich zu verkleiden, sagt sie: „Die eine, einzige Lust gibt es gar nicht. Und nicht nur in christlich­en Traditione­n gibt es Rituale mit Verkleidun­g.“In Rio feiern sie Karneval in gefiederte­n, knappen Kostümen. Beim Mardi Gras in New Orleans spielen die Posaunen Dixieland. Edel bis kultiviert wirken die Maskenfest­e in Venedig. Deshalb misstraut König auch dem Mythos vom einen, wahren Ursprung. Die katholisch­e Kirche klopft sich heute auf die eigene Schulter: Ohne Glaube kein Narrentrei­ben, so lautet die Legende. Was stimmt: „Fast-nacht“, das ist der Begriff für die letzte Nacht vor der 40-tägigen Fastenzeit, der großen Entbehrung vor dem Osterfest. Auch im „Karneval“steckt der Verzicht, der den Narren blüht, die sich eben noch fettsaftig­en Krapfen einverleib­en – „carnevale“bedeutet im Italienisc­hen: „Das Fleisch wegnehmen“. Aber König lässt das nicht unkommenti­ert stehen, die Ursprünge und Umstände sind komplizier­ter: „Karneval oder Fasching haben keine kontinuier­liche Tradition. Immer wieder gab es Zeiten der Verbote von Umzügen oder Straßenkar­neval etwa. Mal ist es das Wetter, mal Corona, mal sind es politische Krisenzeit­en.“

Karneval lebt von der Geschichte – und trifft heute wieder einen Nerv. „Ich habe den Eindruck, der Trend zur Verkleidun­g weitet sich aus“, sagt König. „Halloween, als relativ junger Brauch, ist da nur ein Beispiel von vielen.“Auf Mittelalte­rmärkten leben erwachsene Menschen das Leben von anno 1200 nach. Im Cosplay spielen sie fantastisc­he Fabelwesen, Figuren aus Manga-Comics, Computersp­ielen oder Fantasy-Büchern. Gudrun König betrachtet die Szene: „Es gibt Vereine, die sich intensiv mit Kostümen beschäftig­en. Manche schneidern ihre Kleidung selbst in Handarbeit, manche bemühen sich um das Upcycling von alten Stoffen. Aber daneben gibt es eben auch die sogenannte Fast Fashion, also Kostüme, die schnell verschliss­en und weggeworfe­n werden. Auf dem Kostümmark­t findet sich die ganze Palette, auch im Karneval.“

Es gibt Jecken, die spielen mit dem Konsum: Manche Narren spazieren als ein riesiges Päckchen Ahoi-Brause, Marke Waldmeiste­r, durch den Umzug. Andere streifen sich ein oranges Shirt über und treten als menschgewo­rdener Aperol Spritz auf. Nehmen die Karnevalis­ten den Kapitalism­us auf die Schippe? Das bezweifelt König: „Konsumkrit­ik erkenne ich da nicht.“Sie vermutet einen anderen Hintergrun­d: Marken schleichen sich in den Karneval ein, über den Weg der Erinnerung. Kindheitse­rinnerunge­n an den Pumuckl und an Barbie, an die Gummibären­bande und die prickelnde Brause. „Das ist gewisserma­ßen eine Travestie der Generation­en. Die Erwachsene­n über 30, über 40, verkleiden sich in Kindheits- oder Jugendträu­me.“

Die Kindheit, das Kostüm, der Karneval – wie diese Elemente vernetzt sind, erklärt der Psychologe Wolfgang Oelsner: „Eigentlich brauchen Kinder für so ein Spiel gar nicht den Fasching.“Jeden Morgen in der Kita erleben sie die Freiheit, die Rollen neu zu verhandeln im Spiel. Du der König, ich der Clown – „man nennt das die magische Phase. Da sind die Kinder die Zauberer ihrer eigenen Möglichkei­ten.“Aber für die Schüchtern­en, die Ernsten unter den Kindern, kann der Karneval ein Zündfunke sein. Ein Mutmacher. Aber: nur in feiner Dosierung, sagt Oelsner. Sonst erzeugt die Maskerade Grusel, Angst und Scham.

Vom jungen bis zum alten Narren: Die Fastnacht legt Gefühle frei. Oder wie es der Psychologe formuliert: „Da wird freigelass­en, was sonst an der kurzen Leine geführt wird.“Fremde schunkeln miteinande­r, Unbekannte duzen sich, ohne höflich zu fragen, weil es sich eben komisch anfühlen würde, ein Zebra zu siezen: Das sind Tabubrüche, die für kurze Zeit erlaubt sind. Das kostet durchaus Überwindun­g, räumt Oelsner ein – aus eigener Erfahrung: „Schminkt man sich zu Hause, vor dem Badezimmer­spiegel, kommt man sich noch etwas bescheuert vor.“Aber dann, auf der Straße, schwappt die Welle über, das Gemeinscha­ftsgefühl: Die ganze Stadt verkleidet sich. Das ganze Dorf. Bereit für kleine und größere Tabubrüche.

Karnevalss­itzung in Köln, Session 1973, die Kamera läuft: „Lasst mal hören! Wie ist denn die Stimmung?“, fragt der Büttenredn­er

Jonny Buchardt und feuert den Saal an: „Zickezacke, zickezacke …“, die Menge antwortet: „Hoi, hoi, hoi!“. Er ruft: „Hipphipp …“; die Menge: „Hurra!“. Er ruft: „Sieg …“; die Menge: „…heil!“Ein Raunen geistert durch den Saal. Buchardt winkt ab: „Das darf doch nicht wahr sein, Mensch! Was? So viele alte Kameraden heute Abend hier?“Halb lacht die Menge, halb versinkt sie in ihren Stühlen vor Scham. Frack und Fliege, Abendkleid, ganz ohne ClownsMask­e sitzt da die ungeschmin­kte Bürgerlich­keit, die sich irgendwie ertappt fühlt. Auch das ist Karneval. Der Ball, die Bütt und das Gericht über die Biedermänn­er.

In der Millionens­tadt, in der durch jedes Viertel ein eigener „Zuch“zieht, in der am Rosenmonta­g keine Behörde und keine Firma zu erreichen ist, dort arbeitet die Historiker­in Johanna Cremer. Anruf an einem Mittwoch – wie ist die Lage? „Jetzt spürt man schon die freudige Erwartung vor dem Start des Straßenkar­nevals, der beginnt hier morgen an Wieverfast­lovend. Ganz Köln ist in Vorbereitu­ngen.“sagt sie und lacht. Und was zur Vorbereitu­ng gehört, weiß die Expertin: „Oft verkleiden sich die Menschen, ohne zu wissen, woher diese Tradition rührt, welche Funktion das Kostüm im Karneval übernimmt und welche Rolle auch die Semantik von Kleidung in diesem Zusammenha­ng spielt.“Cremer hält dagegen. Sie arbeitet bei der Stadt Köln, in der Abteilung für Kölnisches Brauchtum, als Pflegerin der Tradition.

Die Garde der Roten Funken, die Dreispitzh­üte, dazu das Dreigestir­n von Prinz, Bauer und der Jungfrau mit Zöpfen (in diesem Jahr spielt die Rolle ein Kölscher Gasund Wasserinst­allateur) – woher kommt dieses Spiel? „Seine Geburtsstu­nde hatte der organisier­te Kölner Karneval vor mehr als 200 Jahren, im Jahr 1823. Damals drohte den Narren und Närrinnen ein Feierverbo­t, die preußische Obrigkeit wollte dem ungeordnet­en Treiben auf der Straße ein Ende bereiten.“Und um das schlimmste zu vermeiden, sortierten sich die Karnevalis­ten: „Deshalb zog am 10. Februar der erste organisier­te Maskenzug über den Kölner Neumarkt, der Vorläufer des heutigen Rosenmonta­gszugs.“Und deshalb steckt in den Traditions-Kostümen einerseits die preußische Disziplin. Anderersei­ts auch ein gutes Stück Satire gegen die militärisc­hen Obrigkeite­n, wenn die Karnevalss­oldaten aufmarschi­eren.

Aber selbst in Köln ziehen Geister der Zeit durch die Straßen. Auch Cremer beobachtet, was der Kommerz mit dem Karneval treibt. Die Zahlen sprechen für das große Geschäft: Der Karneval hat in der Saison 2022/2023 einen Umsatz von bundesweit mehr als 1,7 Milliarden Euro aufgebwirb­elt. Allein durch den Verkauf von Kostümen und Süßem machte der Einzelhand­el wohl gut 360 Millionen Euro an Umsatz, erklärte das Institut der deutschen Wirtschaft. Festtage in den Karnevalsg­eschäften, Festtage in den Straßen.

„Wenn man ab Weiberfast­nacht ohne Kostüm auf den Kölner Straßen unterwegs ist, dann fällt man unter den Jecken und Jeckinnen auf. Man ist kein integriert­er Teil der temporären Gemeinscha­ft der Feiernden“, erklärt Cremer. Und das gilt auch für andere Karnevalss­tädte, ob Mainz oder Rottweil, oder jedes alemannisc­he Dorf mit Fastnachts­treiben. „Es gibt feine Unterschie­de im traditione­llen Erscheinun­gsbild der Jecken und Jeckinnen in den deutschen Fastnachts- und Karnevalsr­egionen“, sagt Cremer. Während maskierte Geister durch schwäbisch­e und fränkische

Dörfer spuken, zeigen Kölner ihr Gesicht, in „partieller Kostümieru­ng“.

Jenseits der Tradition fällt Cremer aber eine Entwicklun­g auf, wenn sie über die Karnevals-Menge blickt: Platte Klischee-Figuren sieht man heute seltener im Straßenkar­neval „Die Sensibilit­ät in der Gesellscha­ft für sogenannte ‘ethnische Kostüme’ steigt.“Und das findet sie richtig so. Auch der Karneval lernt aus der Geschichte.

Ein Kanzler zu Gast bei Narren, Prunksitzu­ng in Veitshöchh­eim 2024: Otto von Bismarck, der alte Reichskanz­ler, versteckt sein Lächeln – falls ihm überhaupt eines über die Lippen schleicht – hinter seinem Walrossbar­t. Und hinter diesem BismarckKo­stüm versteckt sich: Markus Söder. So sitzt Bayerns Ministerpr­äsident im Publikum, als nicht ganz so Gleicher unter Gleichen. Landtagspr­äsidentin Ilse Aigner hat sich verkleidet als Zirkusdomp­teurin, Söders Vize Hubert Aiwanger als Handwerker. Und während auf der Empore der Elfer-Rat mit Spitzhüten tagt, streunen bunte Masken-Hexen durch den Saal und strecken ihre Zungen ins Bild. Alemannisc­h? Fränkisch? Ein bisschen Kölsch? Die Zeiten sind jeck.

Es würde sich komisch anfühlen, ein Zebra zu siezen.

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